Seelischer Angriff auf das Selbstbild des Kindes durch die Eltern.
Das taugt nicht als Schlagzeile. Eltern wollen sie nicht und die, die vom ersten Atemzug an, Tag für Tag, dieser Aggression ausgesetzt sind, sind noch nicht in der Lage diese Anzeige zu schalten.
Warum sind wir nicht in der Lage, jeden Menschen so zu lassen wie er ist?
Ich bin da, weil das Leben mich will. Es hat mich gerufen. Jetzt antworte ich. Ich selbst. Selbstverantwortung. Und ich bin es sogar, der die Geburt einleitet, nicht Mama. Nach etwa neun Monaten der Entwicklung spürt jeder selbst, wann der rechte Zeitpunkt für ihn gekommen ist. Ungeboren geben wir den entscheidenden Hormonausstoß in den Körper der Mutter und lösen damit die Wehentätigkeit aus.
Selbstverständlich lieben Eltern ihre Kinder. Aber mit der ungeprüft von den eigenen Eltern übernommenen „Aus-dir-müssen-wir-erst einmal-einen-Menschen machen-Einstellung“ ist ihre Liebe für das Kind psychische Aggression. „Das Kind erlebt diesen seelischen Angriff auf sein Selbstbild Tag für Tag, denn die Grundhaltung »Wir sind für dich verantwortlich« ist im Gefühl der Erwachsenen verankert und stets präsent. Diese Aggression begleitet das Kind den ersten Tag, den zweiten Tag, den dritten Tag, die erste, zweite, dritte Woche, den ersten Monat, den zweiten, den dritten, das erste, zweite und dritte Jahr – die gesamte Kindheit über, 16, 17, 18 Jahre lang. Ununterbrochen und alternativlos erfährt der junge Mensch von den Erwachsenen ihren grundlegenden Vorbehalt. Er erfährt, dass er so, wie er ist, noch kein vollwertiger Mensch sei, dass er nicht zur Selbstverantwortung befähigt sei, dass er erst ein soziales Wesen werden müsse, dass er dies und das lernen müsse, dass er erzogen werden müsse, so, wie andere meinen, dass es gut für ihn sei.“ (Hubertus von Schoenebeck)
Ὁ μὴ δαρεὶς ἄνθρωπος οὐ παιδεύεται. (Ho mē dareis anthrōpos ou paideuetai.)
„Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird auch nicht erzogen.“
Johann Wolfgang von Goethe muss diesen Satz von Menander so toll gefunden haben, dass er ihn seiner Biographie vorangestellt hat.
Aber was ist nun Dichtung und was Wahrheit?
Joachim Bauer legt seine aus der neurobiologischen Forschung und seiner klinisch-ärztlichen sowie psychotherapeutischen Praxis hervorgegangene These dar, dass die zentralen Strebungen des Menschen primär auf zwischenmenschliche Bindungen und gelingende soziale Beziehungen gerichtet sind. Für die Annahme, dass die Ursprünge der Aggression im Überlebenskampf mit Anderen begründet ist, gibt es keine wissenschaftlichen Beweise. Vielmehr besteht die ursprüngliche Funktion der Aggression in der Bewahrung der Unversehrtheit des eigenen Organismus und in der Abwehr von Schmerz.
Die zentrale Bedeutung des Bindungsbedürfnisses (Partnerschaft, Familie) erklärt, warum Gewalt in Folge aktivierter Aggression überall dort eine Rolle spielt, wo bestehende Beziehungen gefährdet sind. Selbstverständlich kann dies Gewalt in keiner Weise rechtfertigen. Die Beendigung und der Verlust von Bindungen gehört zu den unvermeidlichen Tatsachen des Lebens. Im Gegensatz dazu sind Zuwendungsdefizite, Beziehungsmangel, soziale Verwahrlosung und Gewalterfahrung, wie sie immer mehr Kinder und Jugendliche erleben, keine unvermeidliche Tatsache des Lebens.
… und das Beste, was Eltern ihrem Sprössling geben können,
ist die kostbare Wohltat der Nichteinmischung.
H. G. Baynes
Hanswerner Herber