Gott, du weißt, welche speziellen Versuchungen den alten Menschen heimsuchen können.
Weil ich noch ein paar Freunde behalten will, auch jüngere, bitte ich dich:
Mache mich irgendwie darauf aufmerksam, zwicke mich, wenn ich anfange, einem netten Menschen, der mich nach meinem Ergehen fragt, meine Beschwerden zu beschreiben und was der Arzt gesagt hat und so weiter und so fort.
Du erinnerst dich, wie ich kürzlich jemandem beigepflichtet habe, der fand, das Alter sei geradezu grotesk. Das könne sich nur ein Sadist ausgedacht haben. Der Geist noch glasklar, die Gefühle im Fluss wie eh und je – und dann dieses welkende Fleisch! Leider ist mir in dem Moment keine „Spiritualität des Alters“ und „Langlebigkeit als Aufgabe“ eingefallen. Liegt da in meinen unbewussten Tiefen noch etwas Unerlöstes, das ich ans Licht heben sollte?
Bitte hindere mich daran, aus der Fülle meines Wissens zu allem und jedem meine Meinung zu sagen und es besser zu wissen. Du weißt, dass ich eigentlich zu den Menschen gehören möchte, welche mehr Fragen als Antworten haben. Ist es nicht ein Zeichen von Jugendlichkeit, Beweglichkeit und geistigem Mut, Dinge offen lassen zu können?
Du weißt, dass ich eine Anhängerin von Gewaltlosigkeit bin. Ganz besonders bitte ich dich um deinen Widerspruch, wenn jemand mit mir in einen Dialog treten möchte, und ich rede ich ihn in Grund und Boden.
Gott, es macht mich glücklich, dass gutes Benehmen wieder in Mode kommt. Dann habe ich doch damals bei den Schwestern auf dem katholischen Lyzeum nicht umsonst gute Manieren gelernt, Tischsitten, Höflichkeit, Dezenz. Es geht ja nicht nur darum, wie man etwas mit dem richtigen Besteck isst, sondern um respektvollen Umgang mit Mitmenschen und gelingende Kommunikation.
Bewahre mich vor den spirituellen Schlaumeiern, die ungefragt hellseherische Kommentare zu den Krankheiten anderer Leute, die diese angeblich selbst produziert haben, abgeben. Lass mich nicht einmal denken, ich wüsste etwas vom Weg eines Menschen, sondern mir immer der sokratischen Weisheit bewusst sein, dass ich nichts weiß.
Nur du weißt – und lass es auch bitte unter uns bleiben – dass ich das Leben auf dieser Erde manchmal leid bin und mit dem Gedanken spiele, „nach Hause zu gehen“. Erinnere mich daran, dass ich Halbherzigkeit hasse. Rede ruhig Klartext mit mir, dass ich den Engelwesen, die auf der anderen Seite „Schlange stehen“, weil sie inkarnieren möchten, dass ich einem solchen den Platz wegnehme, wenn ich mich nicht auch im Alter voll und ganz und leidenschaftlich dem Leben hingebe.
Tadele mich, wenn ich mit Berufung auf mein Alter auf gebrechlich mache und die tägliche Bewegung öfter ausfallen lasse, wenn ich zu viel Schokolade esse und keine Lust habe, mir immer gesundes Essen zu kochen. Denn das Wissen, dass mein Körper als Tempel meiner Seele seine Heiligkeit nie verliert, könnte auch mal von der Faulheit erstickt werden, und das will ich nicht.
Ich danke dir für die Begegnung mit der Journalistin, die mir im Laufe unseres Interviews gestand, sie, die Mittvierzigerinnen hätten im Grunde alle Angst vor dem Alter, und da sei es ein richtiges Glück, wenn man mal einem Exemplar Mensch begegnet, das „anders“ altert. Ob wir wüssten, dass wir Identifikationsobjekte für die Jüngeren seien?
Lieber Gott, hast du kein Erbarmen mit Menschen, die keine anderen Abenteuer mehr kennen als die Klinik, den OP-Tisch und die Rehabilitationsmaßnahmen? Die schon mit Mitte sechzig tönen: „Ich habe mein Leben gelebt!“ und sich jetzt eine Art von Dauer und Existenzberechtigung schaffen durch Enkelfinanzieren?
Da es mich noch gibt, soll es mich wohl auch noch geben. Noch weiß ich, was ich für die Erde tun kann. Und wenn ich eines Tages vielleicht nichts mehr „tun“ kann, werde ich die Weisheit und Spiritualität des Nichttuns lernen, aber bitte nicht so bald.
Amen.