Ich stehe auf einem Marktplatz. Habe mich, so gut ich konnte, genau in die Mitte gestellt. Die Menschen laufen um mich herum – keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit.
Die Sonne scheint über die Dächer der Häuser, die den Platz Einrahmen. Der größte Teil des Platzes ist noch gefüllt mit Sonnenlicht. Mir scheint sie in den Rücken, wärmt mich und lässt vor mir einen langen dunklen Streifen auf dem Kopfsteinpflaster entstehen. Der Zeiger einer Uhr, beschließe ich.
Ein älterer Herr kommt vorbei. Ich rufe ihn zu mir. „Können sie sich bitte mal dort auf das Ende meines Zeigers stellen? Sie wären dann fünf Uhr. Aber nur wenn sie Zeit haben.“
„Ich habe Zeit, ganz viel sogar.“ sagt er und schlurft an die zugewiesene Stelle.
Wir warten, der Zeiger läuft weiter über das Pflaster.
Es ist sechs Uhr.
Eine junge Frau rennt vorbei. Ich rufe sie zu mir. Auch sie kommt und fragt worum es geht. „Würden sie sich bitte an das Ende meines Zeigers stellen? Sie wären dann sechs Uhr. Aber nur wenn sie Zeit haben.“
„Zeit hab ich keine, aber wenn ich dort tanzen darf, dann werde ich es tun.“
„Klar! Tanzen ist gut.“
Sie rennt los, stellt sich an den zugewiesenen Platz und tanzt, mal auf dem einen und mal auf dem anderen Bein.
Der Herr wartet, die Frau tanzt und ich beobachte meine Armbanduhr.
Es ist sieben Uhr.
Die Sonne wärmt immer noch und der nächste Zeiger will besetzt werden. Ein Mann mit rotem Schal kommt vorbei und fragt, ob er etwas für mich tun könne, er würde mich schon eine Zeit lang beobachten.
„Können sie sich vielleicht an das Ende meines Zeigers stellen? Sie wären dann sieben Uhr. Aber nur wenn sie Zeit haben.“
„Zeit? Die Taschen hab ich voll damit und am liebsten verwende ich sie fürs singen.“
„Schön“, sage ich „dann singen sie.“
Und er stellt sich auf die Zeigerspitze und singt.
Der Herr wartet, die Frau tanzt, der zweite Herr singt und ich beobachte meine Armbanduhr.
Es ist acht Uhr.
Ein Müllmann kommt vorbei, mit einem Besen auf der Schulter. Er sieht ein wenig mürrisch aus. Ich frage ihn dennoch.
„Würde es ihnen etwas ausmachen, sich auf das Ende meines Zeigers zu stellen? Sie wären dann acht Uhr. Aber nur wenn sie Zeit haben.“
„Was heißt denn hier Zeit“, schimpft er, „die muss man ja wohl haben, um den ganzen Dreck hier weg zu machen. Wenn ich die Leute laut ermahnen darf, ihren Dreck selber mitzunehmen, dann hätte ich Zeit.“
„Das dürfen sie“, sage ich ihm. Er stellt sich auf das Zeigerende und fordert die Leute brüllend dazu auf, ihren Dreck mitzunehmen.
Der Herr wartet, die Frau tanzt, der zweite Herr singt, der Müllmann brüllt und ich beobachte meine Armbanduhr.
Es ist neun Uhr.
Ein kleines Mädchen mit Tränen im Gesicht steht vor mir.
„Würdest du dich an die Spitze meines Zeigers stellen? Du wärst dann neun Uhr. Aber nur wenn du Zeit hast und vielleicht weniger weinen könntest.“
„Ich höre sofort auf zu weinen, wenn ich mich da hinstelle, weil ich dann nämlich keine Zeit mehr habe fürs ins Bett gehen. Ich kann mich da hinstellen und muss dann nicht ins Bett – richtig?“
„Richtig“, sage ich zu ihr, und die Kleine stellt sich auf neun Uhr mit strahlendem Gesicht.
Der Herr wartet, die Frau tanzt, der zweite Herr singt, der Müllmann brüllt, das kleine Mädchen strahlt und mein Wecker klingelt. Es ist zehn Uhr und zu meiner Freude darf ich heute wieder auf den Marktplatz gehen.
Ein Beitrag aus dem Kurs Kreatives Schreiben von
Georg Lorenz