Menschlichkeit

Amantes en Venecia

 

Wer in dieser Welt Menschlichkeit wirklich zu leben versucht und sie als unbedingte Forderung an seine Mitmenschen richtet, der muss sich als erstes von der Vorstellung ganz und gar lösen, er könnte auf diese Weise etwas für sich »Nützliches« erreichen. Solange jemand darauf aus ist, reich, mächtig, erfolgreich und berühmt zu werden, kann er unmöglich leben, wie Sokrates es getan hat – oder wie Jesus es vorlebte; er muss im Gegenteil prinzipiell von der Erwartung lassen, für sein Wohlverhalten werde er Wertschätzung und Anerkennung ernten. Das Urteil Gottes, nicht der Menschen, ist sein Maßstab; allein das Jenseits all des bürgerlich und staatlich Festgelegten vermag Menschlichkeit zu begründen, – der Gruppenkonsens, die veröffentlichte Meinung, die Machtinteressen der Regierenden, die Kunst der Rechtsgelehrten, die Erlasse der Verwaltung – sie alle dürfen nicht im letzten ausschlaggebend sein; sie können völlig in die Irre gehen!

Eugen Drewermann, Liebe, Leid und Tod

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