„Wo ist dein Selbst zu finden“, fragt Hugo von Hofmannsthal und antwortet sich selbst: „Immer in der tiefsten Bezauberung, die du erlitten hast.“ – „Ja“, sagt meine Seele und fühlt sich getröstet, nur um gleich in den tiefsten Orkus zu stürzen. Das ist der Ort, in dem der Herr des Konjunktivs die Definitionen versammelt, die geistigen Ergüsse vieler kluger Leute, die andere kluge Leute auf den Plan rufen, die sich berufen fühlen, sich auch zu ergießen. Nun gut, gerne auch der faustische Drang nach Erkenntnis, dass ich erkenne was die Welt im Innersten zusammenhält. Damit ist der vertikale Balken des Kreuzes schon errichtet: Wer bin ich?
Was ist meine Identität?
Idem steht lateinisch für der-/die-/dasselbe und ens für das Seiende. Identität ist also die Gesamtheit aller Eigentümlichkeiten, die mich (Subjekt) als Individuum kennzeichnen und von allen anderen unterscheiden. Das gilt natürlich auch für jeden x-beliebigen Gegenstand. Soweit die erste Annäherung. Gehen wir näher ran. Die Kernaussagen sind „kennzeichnen“ und „unterscheiden“.
Als Relation zwischen zwei gegebenen Größen bedeutet Identität die völlige Übereinstimmung. Die Tatsache, dass die Münze mit der Prägung „1 Euro“ in meinem Portemonnaie völlig übereinstimmt mit einer Münze in deinem Geldbeutel, macht sie dennoch nicht zu meiner. Der Unterschied liegt in „mein“ und „dein“, und das sind besitzanzeigende Fürwörter, wobei wir beim „Haben“ angekommen sind, wo wir doch zum „Sein“ kommen wollten. Also flugs eine Kehrtwendung zur Ontologie und damit zur Frage nach der Existenz, die als Merkmal jedem Seienden zukommt oder als Sein an sich befragt wird. Und schon frage ich mich, ob ich als ens idem, immerdar derselbe bleiben muss oder mich in meiner Identität wandeln darf. Jedem Sein geht doch Werden voraus. Am Ende – wie definieren wir dieses jetzt? – habe ich (hoffentlich) immer noch eine Entität, aber ist die dann noch idem? Und schon sind wir bei Ontologie 2. Teil: dem Problem der Identität oder der Fortdauer und Veränderung über die Zeit hinweg. Eng verwandt damit ist das Problem der Totalität, die Allheit des Vielen in Einem, der Einheit in der Vielheit.
Plutarch erzählt: „Das Schiff, auf dem Theseus mit den Jünglingen losgesegelt und auch sicher zurückgekehrt ist, eine Galeere mit 30 Rudern, wurde von den Athenern bis zur Zeit des Demetrios Phaleros aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und ersetzten sie durch neue intakte. Das Schiff wurde daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.“
In einer anderen Variante vertraut Theseus ein älteres, aber durchaus seetüchtiges Schiff einem Reeder zum „Pimp Up“ an. Er bittet den Werfteigner, die 1000 Planken gegen neue auszutauschen. Der Eigner der Werft besitzt mehrere Docks und findet es schade, die alten Planken von Theseus‘ Schiff einfach wegzuwerfen, also beschließt er, in Dock A das Schiff des Theseus nach und nach auseinanderzunehmen und ersetzen zu lassen und die Planken in Dock B zu bringen, wo sie in der ursprünglichen Reihenfolge und an ihrer ursprünglichen Position wieder zu einem Schiff zusammengesetzt werden, was gelingt.
Ha, doppelte Identität! Tetralogik! Schrödingers Katze und die Advaita vedanta lassen grüßen:
1. Das Schiff aus Dock A ist Theseus‘ Schiff.
2. Das Schiff aus Dock B ist Theseus‘ Schiff.
3. Beide Schiffe sind Schiffe Theseus‘.
4. Keines der Schiffe ist das Schiff des Theseus.
Zeit, sich dem horizontalen Kreuzesbalken zu zuwenden: wie entsteht Identität?
Für Erikson ist Identität nichts Statisches und Unveränderliches. Beginnend im Säuglingsalter bis hin zum reifen Erwachsenenalter hat Erikson acht Phasen der psychosozialen Identitätsentwicklung identifiziert. Entwicklung sei eine „zeitlich fortschreitende Differenzierung von Komponenten“ der Persönlichkeit. Probleme im Fortschreiten dieser individuellen Entfaltung sind nicht etwa „Betriebs-unfälle“. Sie sind vorausbestimmt, weil sie von Geburt an existieren. Diese acht spezifischen Entwicklungsaufgaben
- Urvertrauen gegen Misstrauen
- Autonomie gegen Scham und Zweifel
- Initiative gegen Schuldgefühl
- Tätigkeit gegen Minderwertigkeitsgefühle
- Identität gegen Rollenkonfusion
- Intimität gegen Isolierung
- Zeugende Fähigkeit gegen Stagnation
- Ich-Integrität gegen Verzweiflung
sind quasi eingeplant und müssen von jedem Individuum durchlaufen, selbstständig verarbeitet und gelöst werden. Erikson lokalisiert Identität dabei als die „Elastizität, in den Wandlungsprozessen wesentliche Grundformen zu bewahren“ und sich dabei selbst treu zu bleiben und nicht urteilslos allen aktuellen Beeinflussungen nachzugeben. Identität ist nach Erikson „dort am gesichertsten, wo sie in Aktivität begründet ist“, ein Aspekt der organisierenden Tätigkeit des Ichs, die für Kohärenz und Individualität der Erfahrung sorgt. Sie weist drei verschiedene Elemente auf: „introspektive Er-fahrung, beobachtbares Verhalten und unbewußte Prozesse.“
Soweit Erikson. Kommt noch Mead mit seiner Unterscheidung eines impulsiven Ich (I) und eines reflektierenden Ich (Me). Und natürlich ist da noch Piaget und Loevinger und Habermas und Frey und und, und… und dann hänge ich am Balken. Ist mein Wer, was, wie bin ich? kognitiv anzugehen, oder systemisch, oder motivational. Bin ich nicht auch meine beliefs, was ich zu sein glaube? Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mir glauben. Oder sollte ich besser vermuten: ich wünschte mir, ich kann mir glauben. Und schon stecke ich wieder im tiefsten Hades repetitiv dysfunktionaler Muster. Denn wer kann mir schon sagen, ob diese nicht auch konstitutive Eigenschaften sind, welche mir notwendig zukommen und damit essentiell sind und nicht mit Akzidentien abgetan werden soll(t)en.
Was dieses Blog soll?
Fragen aufwerfen!
… und die sollen hinleiten auf eine neue Seminarreihe.
Hanswerner Herber