C.G. Jung – Individuation
Das Individuum ist kein statisches System, es befindet sich ständig in Entwicklung.
Ziel dieser Entwicklung ist die Entfaltung des Selbst. Jung nennt diesen Prozess „Individuation“.
Ziel der Individuation ist es, das Selbst aus der „Persona“ zu lösen und von den Zwängen der unbewussten Bilder zu befreien. Da die Individuation ein spontaner, natürlicher und autonomer Prozess innerhalb der Psyche bezeichnet, kann er nur durch eine therapeutische Analyse angeregt, intensiviert oder bewusst gemacht werden.
Die Individuation findet in zwei großen Abschnitten in den zwei Lebenshälften statt:
In der ersten Lebenshälfte wird das Ich ausgeformt und die vier Funktionen Denken, Fühlen, Intuieren, Empfinden werden differenziert. Die zweite Lebenshälfte ist geprägt von innerer Wirklichkeit, vertiefte Selbstsicherheit, Menschenkenntnis, Bewusstmachung von Wesenszügen die bisher unbewusst geblieben sind.
Diese Prozesse werden begleitet oder behindert durch archaische Symbole, deren Gestalt und Ausprägung zwar individuell variiert, deren Ursprung aber kollektive Bilder sind – die Archetypen.
Der Archetypus ist eine symbolische Formel, die überall dort in Erscheinung tritt, wo entweder noch keine oder nur unbewusste Begriffe vorhanden sind oder solche aus inneren oder äußeren Gründen überhaupt nicht möglich sind. Jung sieht ihr Existenz in vielerlei Quellen belegt:
- Mythen und Märchen
- Geheimlehren wie der Kabbala
- vergleichende Religionsstudien
- Astrologie, Alchemie und Parapsychologie
- ethnologisches Material über sogen. Primitivkulturen
Er klassifiziert die Archetypen nach personifizierten Formen, elementare Figuren und nach dramatischen Abläufen. Die Bewusstmachung des persönlich Unbewussten stellt die Begegnung mit dem „Schatten“ dar. Diese Begegnung ist die erste Stufe der Individuation.
Der Archetyp des Schattens stellt die „dunkle Seite“, den dunklen Bruder/Schwester in uns dar, die zwar unsichtbar aber unzertrennlich mit der Ganzheit der Person verbunden ist.
Aufgrund einer Neigung zur Projektion erscheint der Schatten häufig als Eigenschaft eines äußeren Objektes. So können wir anderen die Schuld für eigene Fehler zuweisen.
Erst wenn wir lernen, unseren Schatten zu sehen, können wir lernen mit unseren Archetypen umzugehen. Ebenso wichtig ist es, die Schatten der anderen zu sehen und anzunehmen um damit umzugehen. Eine Aufgabe, die nach Jung häufig „schwerer lastet als die Annahme des eigenen Schattens“.
Es unterscheidet sich der persönliche Schatten vom kollektiven Schatten insofern ersterer die eigene ungeliebte „dunkle Seite“ repräsentiert, während der kollektive Schatten die negativen Seiten eines aktuellen Zeitgeistes verkörpert.
Der zweite Schritt der Individuation führt uns zur Begegnung mit unserem Archetypus des Seelenbildes. Beim Mann ist dies die Anima, welche ihm als Idealbild vom kollektiven Unbewussten mitgegeben wird – bei der Frau ist es das entsprechende Bild des Mannes, des Animus, welches vom kollektiven Unbewussten vermittelt wird. Die Projektion eines der Idealbilder auf einen Partner muss zwangsläufig scheitern, da die fehlende Übereinstimmung zu Konflikten und Enttäuschung führt.
Hier ist es wichtig, das eigene Seelenbild (Animus oder Anima) zu identifizieren und sich damit auseinander zu setzen. Da ohne jegliche Enttäuschung keine echte Auseinandersetzung möglich scheint, ist dies ein Prozess der „reiferen“ Jahre. Hat man sein Seelenbild erkannt, verliert es die Macht, die es als unbewusster Prozess hatte und befähigt das Individuum dazu, diesen Aspekt in die eigenen Persönlichkeit zu integrieren.
Die dritte Stufe der Individuation ist die Begegnung mit dem Archetypus des „alten Weisen“ oder der „großen Mutter„: Die Begegnung mit dem geistigen Prinzip für den Mann und die Begegnung mit dem stofflichen Prinzip für die Frau, welches die Reife und die Macht zur Sinnschließung und die Akzeptanz der Entstehung, Entwicklung und der Vergänglichkeit beinhaltet. Jung nennt sie die „Mana-Persönlichkeiten“.
Am Schluss der Individuation – auf der letzten Stufe, steht die Begegnung mit dem Archetypus des „Selbst„. Das Selbst verhält sich zum Ich, wie ein Ganzes zum Teil. Obwohl es nicht direkt fassbar ist und sich als Objekt und nicht als Subjekt darstellt, so ist es dennoch erfahrbar. Es lebt sich in Projektionen oder in den Sinnbildern der Archetypen und abstrakten Motiven.
Am Schluss sind wir eins mit der Welt, unio mystica, dem Bewussten und dem Unbewusstem und nehmen Teil am kollektiven Ganzen…