Über den Differenzierungsprozess, der, wie C. G. Jung es sagt, „die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zum Ziel hat“, habe ich bereits eine Zusammenfassung erstellt.
Jung vermutete eine innere Dynamik jenseits des Bewusstseins, welche dem unmittelbaren Einwirken des Willens entzogen ist, die aber den Prozess des personalen Wachstums auslöst und weiter treibt. „Die Neurosen sind verpfuschte Sakramente“, hat Hans Blüher einmal gesagt, „wer sie heilen will, muß verwandt sein mit denen, die im Besitz der geordneten sind.“ Die leidvolle, undurchsichtige Neurose trägt also einen Sinn in sich? Sie hat demnach ein Werdungsziel, ist Heilmittel, hat den Auftrag, den Menschen auf den Weg der Ganzwerdung zu bringen?
In meinen jungen Jahren als Arzt und auch in der Hinwendung zur Psychotherapie in der Lebensmitte, mag solches Gedankengut schon in mir angelegt gewesen sein, zu denken aber hätte ich es nicht vermocht. Heute allerdings ist es zu vielfach erfahrenem Wissen geworden, dass Lebensbrüche nur Bewegungen anstoßen, die dem Werdungsanliegen dienen. Um sich selbst und andere besser zu verstehen, ist es hilfreich, den Blick für Ereignisse in der Welt der Erscheinungen zu schärfen.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis.
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis.
Ein Ereignis, das in Legendenbildung, Kunst, Theologie und Geopolitik seit 2000 Jahren bis heute wirkt, wurde mir heute Morgen beim Hören der Matthäus-Passion bewusst. Die Zurückweisung der 30 Silberlinge durch die beiden Priester: „Blutgeld“ steigert in einem schrecklich dissonanten Septakkord die Verzweiflungsstimmung des Verräters über seine Verdammung.
Verräter? Jenseits aller Legendenbildung, die in der kollektiven Empörung über den Verrat in dem Mann aus Skarioth eine geeignete Projektionsfläche fand, frage ich nochmal: Verrat? Und was wird von Judas eigentlich verraten? „Der Ort, wo Jesus zu finden war“, heißt es im Bibeltext. Aber da heißt es auch „in der Nacht, da er ausgeliefert ward“ (1. Kor. 11,23). Auslieferung = Verrat? Wohl kaum. Dennoch liefern die Legenden um Judas, die bildende Kunst, die Musik das Bild des Verräters. Und die Theologie. Um die aber geht es mir nicht, nicht nur wegen mangelnder Kompetenz, sondern weil mich das Thema individuationspsychologisch interessiert.
Jung unterscheidet drei Stufen der Entwicklung und damit der Bewusstseinsdifferenzierung:
- Als Kind ist man von einer bestimmten vorgefundenen Lebensform abhängig. Das Wort der Eltern hat „Gesetzescharakter”. Auf dieser Stufe nimmt das Kind das Gegebene hin, es reflektiert nicht, sein Zustand ist „ein bloßes Wissen … ohne intellektuelles oder moralisches Urteil.”
- In der bewussten Unterscheidung von den Autoritäten beginnt ein erstes Erkennen der eigenen Individualität. Man macht die Erfahrung, dass man anders ist, anders denkt und anders fühlt. Das kritische Denken, die Reflexion beginnt, es kommt zu bewussten Entscheidungen. Noch ist unterschwellig der alte Gegensatz vorhanden und erhält durch das Aufsteigen bisher noch unbewusster Impulse viel Konfliktstoff.
- In dieser dritten Phase geht es darum, die Grenzen des kritischen, rein rationalen Denkens anzuerkennen, einzusehen, dass die Vernunft allein nicht Quelle der ausschlaggebenden Erkenntnisse und Entscheidungen ist. Es gilt, sich einer inspirierenden Instanz zu unterwerfen, seine Intuition zu entwickeln und sich einer inneren Führung anzuvertrauen.
Betrachten wir wieder Judas Iskariot und seinen Status als Jünger und darüber hinaus das Jünger-Meister-Problem. Jüngerschaft und Gefolgschaft setzen den Glauben an die Unfehlbarkeit des Meisters voraus. Personen, die in der Phase der Abhängigkeit leben und noch unkritisch folgsam sind, suchen in wesentlichen Belangen ihres geistigen Lebens Weisung beim Meister. Solange sie noch feste Strukturen benötigen, wirkt auf sie als eher Ich-Schwache die Nähe der großartigen Bezugsperson als segensreich, aber eben nur solange wie sie in Entwicklung, Umwälzung und Neuordnung der Persönlichkeit sind. Sie brauchen zur Stützung ihres schwachen Ichs die Zustimmung Gleichgesinnter. Eine Gemeinschaft, die aus “Abhängigen” besteht, ist gekennzeichnet durch einen enormen inneren Zwang, durch den der Zusammenhalt gewährleistet wird. Die Bereitschaft zur Unterwerfung und autoritärer Leitungsstil bedingen einander. Im Innersten sind Erwachsene mit dieser Einstellung Kinder in der Stufe der Verschmelzung geblieben.
In der Autonomieentwicklung kommt das Kind in den Konflikt und der Jünger als Eigengeist kommt an die Grenze, da die Selbstverwirklichung der Persönlichkeit beginnt. Der individualistische Akt der Befreiung aus der Bindung an den Meister beginnt. Bleibt er in der Nachahmung oder der unkritischen Reflexion der meisterlichen Kraftquellen, resultiert unschöpferische Schwäche und damit ein Verbleiben im Unlebendigen, der Quelle aller Intoleranz. Der Auftrag „Triffst Du Buddha unterwegs, schlag ihn tot!“ kann nicht erfüllt werden, eher zerstört der Jünger sich selbst. Hier beginnt Individuation: In der Entscheidung sein Ich aufgehen zu lassen in der ihm bestimmten Lebensaufgabe, auch wenn die eigene Aufgabe und Sendung Trennung und Abfall, ja Verrat notwendig machen. Hier beginnt Individuation, betonen wir noch einmal kursiv. Noch ist das Individuum, das zum kritischen Denken erwacht ist und sich gegen Autoritäten auflehnt, noch lange kein autonomes Wesen. In der Phase der Gegenabhängigkeit, wird das Individuum geradezu zwangsläufig in Situationen geführt, in denen alles, was nach Strukturen, Ordnung und Autorität aussieht, bekämpft werden kann. Wer aber hier sein Eigenes nicht entwickelt, wer nur das Loch in den Zaun schneidet und nicht hindurchgeht, verwechselt Freiheit mit dem Befreiungsakt, Revolution mit Evolution, bleibt im Wortsinn jünger in der Form der Auflehnung oder eben auch Jünger in der Form der Anpassung. Wer seine Geltung nur aus dem schöpferischen Genius des Meisters bezieht und nicht gemäß dem Eigenen sein Leben verwirklicht, verharrt in bedingungsloser Nachfolge, bleibt ein „Rechtgläubiger“ mit dem vermeintlichen Recht Andersgläubigen in Unduldsamkeit zu begegnen. Stefan George drückt es in seinem Gedicht „Der Jünger“ so aus:
Ihr sprecht von Wonnen die ich nicht begehre;
In mir die Liebe schlägt für meinen Herrn.
Ihr kennt allein die süße, ich die hehre;
Ich liebe meinem hehren Herrn.
Mehr als zu jedem Werke eurer Gilde
Bin ich geschickt zum Werke meines Herrn.
Da werd ich gelten, denn mein Herr ist milde,
Ich diene meinem milden Herrn.
Ich weiß in dunkle Lande führt die Reise,
Wo viele starben, doch mit meinem Herrn
Trotz´ ich Gefahren, denn mein Herr ist weise.
Ich traue meinem weisen Herrn.
Und wenn er allen Lohnes mich entblößte:
Mein Lohn ist in den Blicken meines Herrn.
Sind andre reicher: ist mein Herr der Größte
Ich folge meinem größten Herrn.
Tue Gutes und rede darüber, ist das Motto der Profiteure und Selbstdarsteller. Bei Caesarea Philippi hat Christus sich den Jüngern offenbart, wer er sei, was er beanspruche und was sein Leidensweg sein werde – und ihnen ein Schweigegelöbnis abgenommen: „Da verbot er seinen Jüngern, daß sie niemand sagen sollten, daß er Jesus, der Christus wäre.“
Jetzt kocht es in Judas. Jetzt ist dem Römerfeind klar, dass der messianische Anspruch sich nicht auf diese Welt bezieht. Alle politischen Hoffnungen sind dahin. Warum auch immer Jesus jetzt erst mit seiner Einzigartigkeit seines Sohn-Vater-Verhältnisses daherkommt, mögen die Theologen (erfolglos) sezieren, uns geht es an dieser Stelle nichts an. Wir können aber sehr wohl nachempfinden, dass die Jünger in ihrem magisch-mythischem Denken an den Wunderheiler jetzt aufgestört sind. Störungen lassen sich verdrängen. Wofür haben wir schließlich die Neurose! Konflikte lassen sich aber auch annehmen und gestalten. Christus und Judas tun das. Sie verknüpfen ihr Schicksal miteinander. Die Schrift erfüllt sich. Es erfüllt sich die Verheißung, zu der eben auch gehört, dass einer die Tat begehen muss. Ein jeder verrät etwas, einer verrät etwas, was er bis dahin geheim gehalten hatte und macht es sofort wieder zu einem Geheimnis, einer verrät das Geheimnis. In der komplementären Ergänzung von Verräter und Verratenem entsteht Erlösung, Ent-Bindung aus bisheriger Gebundenheit an Vorbewusstes und Unbewusstes.
In dieser dritten Stufe der Individuation, der Phase der Unabhängigkeit durch Empfänglichkeit für höhere Wirklichkeiten, die wir nicht begreifen können, die aber uns ergreifen, nähert sich das Ich dem Selbst an. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder! Hier wird nicht die errungene Individualität wieder geopfert, sondern die ausschließliche Selbstbezogenheit wird abgelegt (unter Schmerzen Zweifeln und Ängsten). Mysterium coniunctionis! In der Vereinigung der Gegensätze fühlt sich die Mitte leicht an.
Wer nicht stirbt,
bevor er stirbt,
der verdirbt,
wenn er stirbt.
Das kleine Ich ist das große EGO. Wer seine Vorstellungen von dieser Scheingröße sterben lassen kann, ist in diesem Augenblick, in dem er den Kelch nicht an sich vorübergehen lässt, aller Bedrängnis und Angst enthoben und in einem größeren Zusammenhang aufgehoben. Damit hat sich das wahre Ich wieder ein Stückchen weiter aus dem Ozean des Unbewussten herausgeboren. Der Judas in uns hat mit seinem Verrat dafür gesorgt, dass der Jesus-Jüngling in uns weder in Verschmelzungswünschen sein Leben verträumt, noch in selbstverliebten Größenphantasien Wundertaten hervorzaubert oder aber in prometheischem Trotz in einer rebellisch-kämpferischen Pose verharrt, sondern als Phönix die „Seele befiedert“.
Hanswerner Herber