„Die Kunst des Feuilletons besteht nicht darin, über ein Thema zu schreiben, sondern über kein Thema zu schreiben. Statt des Themas gibt es einen Anlass. Anlass kann jeder Hosenknopf sein.“
Mein Anlass heißt: es ist Mittwoch und in der Pipeline meiner Blogs herrscht gähnende Leere und über Hosenköpfe hat bereits Peter Bamm geschrieben. Also los! Wenn man den 5. Oktober als Exempel nimmt, will man damit sagen, dass er von der Statistik aus gesehen genau so unbedeutend ist wie der 30. Mai oder der 4. Februar. Es kommt also darauf an, dem Unbedeutenden Bedeutung zu geben. Damit nun niemand sage, wir drückten uns vor unseren eigenen Maximen, wollen wir bei diesem Anlass bleiben. Schreiben wir also über den Knopf, äh, den 5. Oktober.
Meine Gedanken schweifen zu meiner Schwester, die heute vor 50 Jahren diesen Erdenball betreten hat. Herzliche Glückwünsche, Artemis, nach Baltimore! Meine Gedanken schweifen zu meinem Bruder Konstantin, der jetzt wohl im Flieger sitzt, um mit ihr zu feiern. Vaclav Havel hat ebenfalls heute Geburtstag. Mit dem habe ich nichts zu tun, wohl aber mit Prag, dass ich vor 45 Jahren versäumt hatte. Damals ging die Klassenfahrt nach München. Heute weiß ich, dass das tschechische Bier süffiger ist. Woher? Vorgestern war ich noch dort. Abends spät sind wir um die deutsche Botschaft herum zum Garten, haben die Gitterstäbe berührt, über die die DDR-Flüchtlinge kletterten, um dort Schutz zu finden, haben eine Blick auf den Genscher-Balkon geworfen: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“. Der Rest ging im Jubel tausender „Republikflüchtiger“ unter.
27 Jahre zuvor, 1962, die erste Single der Beatles erscheint: Love Me Do. Zeitsprung: 5. Oktober 1821. Als Halbgrieche ist mir das Datum vertraut. Schon als 11jähriger – das war 1957 – habe ich meine Mutter in Athen genervt: Warum heißt dieser Platz 5. Oktober? – Griechische Aufständische unter Kolokotronis erobern die zuvor belagerte Stadt Tripolis auf der Peloponnes. Von den massakrierten Muslimen hatte sie nichts erzählt. Wahrscheinlich hatten sich die Schulbücher darüber ausgeschwiegen.
Ein Jahr zuvor, 1956, hatte Cecil B. DeMilles am 5. Oktober seinen Monumentalfilm Die zehn Gebote mit Charlton Heston als Moses und Yul Brynner als Ramses II. in die Kinos geschickt. Und noch ein Jahr zuvor – Erstkommunion – traktierte mich eine ältliche Nachbarin mit der häufig wiederholten bedrohlichen Aussage: „Augen schließen beim Empfang der Hostie! Sonst trifft dich der Blitz Gottes.“
Wie schaurig-schön ist das deutsche Wort Angstlust, die derjenige verspüre, der sich freiwillig äußerer Gefahr aussetzt, mit der zuversichtlichen Hoffnung, alles werde gut enden (Michael Balint). Nun, Angst hatte ich ohne Ende und die Augen trotzdem auf. Der von der Nachbarin gepredigte Blitz-Gott erschien mir dann doch eher armselig und die 10 Gebote zumindest diskussionswürdig, zumal ein jähzorniger Moses die ehernen Steintafeln in einem Wutanfall zerdeppert, als er das Volk beim Tänzchen um das Golden Kalb erwischt, auch wenn er dann die Weisung erhielt, die Gesetzestafeln neu anzufertigen. Aber sonst war der Film gut (vor allem die Stelle mit dem Roten Meer). Nun, so schnell lassen einen verkündete Gottheiten nicht ziehen. Traduttore, traditore! Schon der Schreiber, nicht erst der Übersetzer ist ein Verräter. Schon das Narrativ niedergeschrieben ist Verrat am gesprochenen Wort. Aber Moses war clever genug, die Gunst der Stunde zu erkennen. Installation einer Übergröße, die den Menschen weit übersteigt, so dass Zweifel unter Androhung von Strafe besser gar nicht erst aufkommen können. Kann das klappen? Oh, selbstverständlich, bestens sogar, notfalls ex cathedra. Da sind wir ja bald wieder. Die Tiara wird schon wieder im Wappen getragen, bald wohl wieder auf dem Haupte. Doch, doch, Haupt muss schon sein. Homo sapiens sapiens, was doch tatsächlich besonders einsichtsfähiger, kluger Mensch, heißt, hat kein Haupt, sondern einen Kopf. Wenn er ihn doch nur gebrauchen würde! Und wo habe ich überhaupt meinen?