Wochenende. Familienaufstellung. Da steht sie, 48 Jahre alt, gezeichnet von einem tiefen Kummer. Dann, in einer weiteren Aufstellung, er, 35 Jahre, ganz Dynamiker, Sieger, aber schon mit scharfen Falten in den Mundwinkeln. Und wieder sie, Anfang 60, erfolgreich und doch „irgendwie leer“, erschüttert über das tief in ihr versteckte oder vergessene kleine Kind, unterernährt, vernachlässigt, geschunden. Die vielen Kinder, denen wir wieder und wieder begegnen an so einem Wochenende: trotzig und distanziert, ängstlich und angepasst, verstört und gestört, süchtig und leer, brav und rechtschaffen.
Eines haben alle gemeinsam, gleichgültig welche Lernerfahrung sie gemacht haben: sie haben ein inneres Wissen davon, was sie brauchen und spüren, wenn sie es nicht bekommen, glauben dann aber, dass es mit Ihnen zu tun hat. Sie kämen nie auf die Idee, es den Eltern anzulasten. Sie glauben sie sind schuld. Kinder lieben mit einem magischen Größenwahn, spüren die Stimmungen der Eltern und versuchen sie auszugleichen. Sie verzichten dann oft auf die eigene Entwicklung und „beeltern“ gar die Eltern.
Im Laufe unseres Lebens eignen wir uns eine Verantwortungsbereitschaft an, die wir als Botschaften der Eltern (oder anderer Autoritäten) ungeprüft verinnerlicht haben und die wir ohne nachzudenken an die nächste Generation weitergeben.
Wie befreiend ist dann der Moment, in dem dann die 48jährige Frau oder der 35jährige Mann ihren (vielleicht schon toten) Eltern sagen können:
„Hab mich lieb, aber nimm mir nicht meine Verantwortung für mich selbst. Denn ich bin vom ersten Atemzug an ein selbstverantwortliches Wesen. Noch hilflos und deswegen ist es notwendig, dass du mir hilfst. Die Verantwortung aber lass bei mir. Unterstütze mich, sage ehrlich, wenn dir etwas zuviel wird. Aber maße dir nicht an, besser zu wissen als ich, was für mich wirklich gut ist. Deine Wahrheit entspringt deiner Wirklichkeit. Ich sehe sie. Sieh auch du meine Wirklichkeit und lass sie zu meiner subjektiven Wahrheit werden. Deine Wahrheit und die meine sind gleichwertig, niemals aber kann deine Wahrheit über meiner stehen.“
Hanswerner Herber