Pennälerzeit. Quinta, Quarta, so in der Ecke. Bundesjugendspiele, Leichtathletik, Hochsprung. Wir stehen in der Gruppe zusammen, warten bis die Reihe an uns ist, schauen den anderen zu. Plötzlich Gekicher. Ich begreife nicht. Ein Rippenstoß und ein Fingerzeig auf eine Klassenkameraden. Gebannt schaut auch er zu, wie der Springer auf die Latte zuläuft und abspringt. Bei jedem Absprung hebt er zeitgleich, nein, sogar eine Spur eher als der Springer das Bein. Und beim nächsten Sprung wieder und wieder. Wir kichern und amüsieren uns königlich über den „Doofen“ da.
Nun, das war okay. Außerdem machte er –das ist das Schöne an der Schadenfreude – und nicht wir uns lächerlich. Und uns unserer Unwissenheit zu schämen, war nicht angesagt, weil 1958 die Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti und Vittorio Gallese von der Universität Parma noch nicht einmal ihr Studium beendet hatten. Erst 1995, nachdem sie schon 10 Jahre mit Affen experimentiert hatten, gelang ihnen der Nachweis von Zellen im Stirnhirn, den sog. Spiegelneuronen. Erst eine 2010 publizierte Studie berichtete über den ersten direkten Nachweis von Spiegelneuronen beim Menschen.
Spiegelneuronen sind ein Resonanzsystem im Gehirn, das Gefühle und Stimmungen anderer Menschen beim Empfänger zum Erklingen bringt. Das Einmalige an den Nervenzellen ist, dass sie bereits Signale aussenden, wenn jemand eine Handlung nur beobachtet. Die Nervenzellen reagieren genauso, als ob man das Gesehene selbst ausgeführt hätte. Am besten ist ein Vergleich aus der Musik: Wenn wir eine Gitarrensaite zupfen, bringen wir die anderen Saiten des Instruments auch zum Schwingen, wir erzeugen eine Resonanz. Mitgefühl, Freude, aber auch Schmerzen zu empfinden, ist auf diese Weise erst möglich.
Was haben diese Zellen und die damit erklärbaren Resonanzphänomene mit Intuition zu tun? Intuition kommt vom Lateinischen intueri, das heißt „nach innen schauen. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Professor Dr. Joachim Bauer meint: „Intuition ist eine biologische Resonanz, die in uns entsteht, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken und ohne dass wir das kontrollieren können. Wir haben sogenannte Spiegelnervenzellen, die in uns diese Resonanz auslösen.“ Und der Hirnforscher Gerald Hüther sagt: „Es gibt keine Erinnerung oder Erfahrung in uns, die nicht mit einem Gefühl gekoppelt wäre. Und diese Gefühle können zur Quelle unseres intuitiven Handelns werden.“
Die Spiegelneuronen im Gehirn sind spezielle Nervenzellen, die den Menschen zum mitfühlenden Wesen machen. Gleichgültig ob m an sich von einem Gähnen anstecken lässt, in ein Lächeln einstimmt oder in ein schmerzverzerrtes Gesicht sieht: man erlebt es an sich selbst. Wir werden mit dem Gefühl des anderen „angesteckt“, das heißt unsere Spiegelneuronen reagieren nicht nur, wenn wir selbst Leid, Schmerz oder Freude erfahren, sondern diese Nervenzellen werden auch dann aktiv, wenn wir diese Empfindungen bei jemand anderem wahrnehmen. Also nicht nur Handlungsfolgen, sondern auch Abläufe des Empfindens und Fühlens lassen die Spiegelneuronen im Gehirn feuern. Das gilt sogar dann, wenn wir nur einen Teil einer Abfolge wahrnehmen, das bedeutet: Spiegelneurone können beobachtete Teile einer Szene zu einer wahrscheinlich zu erwartenden Gesamtsequenz ergänzen. Sie bilden somit einen gemeinsamen intersubjektiven Handlungs- und Bedeutungsraum.
Die analytischen Fähigkeiten der Vernunft stellen seit Descartes zumindest in der wissenschaftlichen Welt die ultima ratio da. Kritische Entscheidungssituationen erfordern sicher, aber eben nicht nur einen kühlen Kopf, sondern auch ein Gefühl für die Situation, auch wenn es ein unwissenschaftliches – so der lange geltenden Vorwurf – ein aus dem Bauch kommendes Gefühl ist. Aber auch in der Welt der Wissenschaft gilt, was Oswald Spengler mal sagte: „Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen“. Die moderne Hirnforschung bestätigt, was der Dichter und der Mystiker schon immer wussten.
Im nächsten Beitrag wollen wir uns ansehen, wie Ratio und Intuition eine harmonische Ehe eingehen können.
Hanswerner Herber