Ihr Lieben,
es ist mal wieder der tradierte Zeitpunkt erreicht, Bilanz zu ziehen, sich Rechenschaft abzulegen. Ob es der rechte Zeitpunkt ist? Ja, warum nicht! In einem gefühlt linearen Zeitpfeil gelebten Lebens werden immer wieder Momente des Innehaltens, des Sich-klar-Werdens, des Klärens erfolgen, spätestens wenn sie uns in den Wechselfällen des Lebens aufgezwungen werden. Das intellektuelle Raffinement des Menschen im Erfinden der zyklischen Zeit trägt dem Rechnung.
Also
auf! Ein Frohes Neues Jahr uns Allen! Das ist ein wohl löblicher
Wunsch. Ein Glückliches Neues Jahr!? Da tut sich neben dem Ausruf
ein Fragezeichen auf: Noch mehr Glück!? Endlich mal Glück, liebes
Schicksal!?
Ist
der Mensch nicht selbst Schmied seines Glückes? Fortuna ist blind,
wusste schon Cicero. Die Polarität von Schicksalsglaube
und Machbarkeitswahn zeigt
sich in „zwei
konträren
Erfahrungen: zum einen die Erfahrung, dass dem eigenen Leben vieles
schicksalshaft vorgegeben ist und man auch während des Lebens von
vielem schicksalshaft bestimmt wird, zum anderen die Erfahrung, dass
sich das eigene Leben trotzdem nicht von selber lebt, sondern dass
man es selber übernehmen und führen muss, was auch dann gilt, wenn
der Spielraum für ein selbstbestimmtes Machen klein ist“ (A.
Holzhey-Kunz).
Wie frei ist also der Mensch in seinen Spielräumen? Was
verbirgt
sich
hinter dem Wort „Freiheit“? Keine
Angst! Wir werden jetzt kein Fass aufmachen, schon weil wir es in
Kürze gar nicht fassen könnten. Im schnoddrigen Ton der Welt, in
der wir leben, in der „Ich-bin-so-frei-Welt“ meinen wir
damit
schlicht
und einfach, nach Lust und Laune agieren zu können. In
einer solchen Freiheit bleiben wir allerdings Sklaven unseres
vergleichenden, bewertenden und urteilenden Denkens. Wir übersehen,
dass wir nicht den „Dingen“ begegnen, sondern uns
den „Meinungen über die Dinge“ ausliefern (Epiktet). Und diesen
Meinungen geben wir Raum, viel Raum. Wenn unseren Konzepten, unseren
unreflektierten Gefühlen und Impulsen dieser Raum nicht im
gewünschten oder ersehnten Maß zu Verfügung steht, fühlen wir uns
eingeengt, geht es uns nicht gut, fühlen wir uns unglücklich. Dann
beginnt die Jagd nach dem Glück und wir übersehen wieder und
wieder, dass die Meinungsfalle
des Glücklich-Sein-Wollens
über
den Weg
des Frei-Sein-Müssens
genau
das Gegenteil bewirkt. Ist der banale Schlagerrefrain
„Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst“ gar
nicht so banal?
Wenn wir frei wären vom Freisein-Müssen, könnte auch das Glücklich-Sein-Wollen aufhören. Wir könnten in der Gegenwärtigkeit gerade dieses uns bewusstwerdenden Augenblicks die großartige Fülle der Gegebenheiten erkennen. Das wäre Hingabe. Schlicht und einfach und lebendig und gelingend.
Ein Neues Jahr voller Neugier für den Augenblick wünscht
Euer Hanswerner Herber