Die leidenschaftliche Liebe ist nicht verfügbar. Eine der intensivsten Erfahrungen im Leben, die beglückt, dem Leben Glanz verleiht, aber auch verstört, das gewohnte Leben aufbricht, in Unordnung bringt, einmal passend ist, dann aber auch ganz und gar unpassend – auf jeden Fall mit größten Konsequenzen, für sich selbst, für andere: sie ist unverfügbar.
Eine ganze Welt der Phantasien, die mit der Liebe verbunden sind, ist dargestellt, besungen, beschworen worden: seit wir die Schrift kennen, haben wir Zeugnisse davon. Wo wäre die Kunst ohne die Liebe! Aber auch: wo wäre die Liebe ohne Kunst? Groß, ergreifend, zerstörend, schwindend – und letztlich doch ein Geheimnis bleibt die Liebe.
Aber: Ist die große Liebe in der heutigen Zeit noch lebbar?
Die Soziologen Beck und Beck – Gernsheim haben schon in den 90er Jahren die Unmöglichkeit der Liebe propagiert. Ihre Idee: Liebe ist in der Zeit der Individualisierung nötiger denn je und unmöglicher denn je. „Die Köstlichkeit, die Symbolkraft, das Verführerische, Erlösende der Liebe wächst mit ihrer Unmöglichkeit.“1 Dass Liebe unmöglich geworden ist, schließen sie aus den Scheidungszahlen.
In unseren psychotherapeutischen Praxen haben wir es mit Menschen zu tun, die sich nach Liebe sehnen, die unglücklich verliebt sind, deren Liebe nicht erwidert wird, oder die nicht wissen, ob sie ihren Partner, ihre Partnerin verlassen sollen. Wir sehen Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, und aus der Trauer oder aus dem Groll nicht herausfinden. Zu wenig Liebe, zu viel Liebe – in Paartherapien die Probleme mit Liebesbeziehungen, die vielleicht schon keine mehr sind, zwei Menschen, die extrem aneinander leiden – und eigentlich doch harmonisch miteinander leben möchten, Menschen, die wissen möchten, ob denn noch Glut unter der Asche ist.
Liebe ist und bleibt ein altes und neues Thema – trotz allem.
Wovon sprechen wir, wenn wir von Liebe sprechen?
Nach Platon begehren wir – und zwar leidenschaftlich – was wir nicht selber haben und was wir nicht selber sind. „Du fehlst mir…“ Die Liebe als Eros eignet sich an, was sie nicht hat, sie will haben, besitzen, behalten. „Weil ich dich liebe, will ich dich haben.“ (Platon: Symposion) Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Schönheit und der Fruchtbarkeit wird bei Platon auf einem Schwan reitend als Symbol der himmlischen Liebe, auf einem Ziegenbock reitend dagegen als die leidenschaftliche sexuelle Liebe symbolisierend verstanden. Auch diese bleibt bei Plato mit der himmlischen Liebe und der Schönheit verbunden: Liebe macht ja bekanntlich schön – „weil du mich anblickst, werd ich schön“, so dichtet Gabriele Mistral. Liebe verleiht in den glücklichen Momenten dem Leben auch einen besonderen Glanz.
Wenn uns nichts mehr fehlte, dann wäre auch die Leidenschaft weg. So Platon – etwas sehr verkürzt. Liebe bedeutete also Sehnsucht nach der Ganzheit, die man verloren hat.
Philia
Aristoteles sagt: „Lieben heisst, sich zu freuen.“ Er spricht von der Philia. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Rhetorik 11.4)
Wir freuen uns daran, mit einem anderen Menschen wichtige Erfahrungen zu teilen, gemeinsam etwas zu bewirken, einem geliebten Menschen eine Freude zu machen, ihn oder sie zu überraschen – da wirkt ja die Freude besonders, wenn wir unerwartet mehr bekommen, als wir erwartet haben.
Philia, das ist der Freundschaftsaspekt der Liebe. Es ist die wohlwollende Liebe, auch die sich interessierende Liebe – nicht nur im Zusammenhang mit Beziehung zu Menschen – sondern auch mit Erfahrungen, mit Dingen: so ist die Philosophie die Liebe zur Weisheit. Wir lieben
auch, was wir tun, wofür wir uns interessieren, und wir genießen auch das. Wo wir lieben, sind wir interessiert. Interesse ist ein Gefühl, das uns anregt, belebt, lebendig macht. Es ist aufregend, erregend.
Eros – die Leidenschaft; Philia – die Freundschaft – das sind die Liebeskonzepte von Plato und Aristoteles, die einander keineswegs ausschließen.
Im Christentum wird noch ein dritter Begriff von Liebe eingeführt, der der Agape, von den Römern mit Caritas übersetzt: die Barmherzigkeit, die Nächstenliebe, eine Liebe, die empfängt und gibt, weil der Nächste einfach der Nächste ist, weil man der Schwachheit eines anderen aufhelfen möchte. Agape ist in der Nähe des umfassenden „Mitgefühls“, wie es der Buddhismus kennt.
Diese drei Konzepte der Liebe wirken auch auf unsere heutigen Vorstellungen von Liebesbeziehungen ein, wobei einmal mehr die eine, einmal mehr die andere Form bestimmend ist.
Ein besonderes Erfolgsmodell war und ist die romantische Liebe.
Auch in unserer Zeit ist sie, verbunden mit Sexualität – allgegenwärtig, z.B. in den Medien. Sie wird beschworen – ihr Fehlen beklagt.
Wir kennen sie vor allem als eine Sehnsucht, die seit dem 18. Jahrhundert beschrieben wird, erstmals und schicksalhaft in dem Roman „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) von Goethe. Liebe muss wohl auch aus der jeweiligen Epoche heraus verstanden werden. In der klassisch–romantischen Epoche gibt es einen Liebesbegriff, der die beiden Liebenden weit übersteigt: die konkret Liebenden haben Anteil daran, aber die Liebe als solche durchwaltet den Kosmos, von Anfang an, sie ist vor dem menschlichen Paar, sie ist nach dem Paar – eine Wirkkraft. (Spinoza)
Peter von Matt, der bekannte Zürcher Literaturwissenschaftler spricht in diesem Zusammenhang von Liebe als einer „Gegenreligion“.2 „Wer in so fundamentalem Sinn von „der Liebe“ spricht, so argumentiert er, der vollziehe damit jedes Mal einen „Akt der Gottesbeseitigung.“ (von Matt, S. 213). Eine ähnliche Vorstellung findet er auch in Mozarts Zauberflöte: „Mann und Weib und Weib und Mann, reichen an die Gottheit an.“
Die Liebe wird hier als die „Selbstbewegung Gottes in der Welt“ (von Matt, S. 213) verstanden, da ist kein Vatergott mehr, sondern nur noch eine Dynamik der Liebe. Und an dieser Liebe als universaler Wirkungskraft hat man Anteil, wenn man liebt.
Dabei galt in der Romantik vor allem die Natur als Resonanzboden für die Liebe. Die Liebe
wurde in die Natur projiziert und auch dort besungen.
Warum nun war die Vorstellung der romantischen Liebe, die ja eine Epoche kennzeichnet, so erfolgreich – und blieb es auch bis heute? Natürlich sprechen wir heute auch von verschiedenen Liebesstilen, unter anderem von der pragmatischen Liebe – aber die ist, obwohl lebbarer, einfach viel weniger attraktiv, viel weniger sexy als es die romantische war und ist. Am Beispiel des Werther wird deutlich, wie Goethes Auffassung von Liebe, aber auch seine Zelebrierung von Liebe, zu einer „Mode“ wurde: nicht nur, dass Werthers Kleidung kopiert wurde, sondern auch sein Selbstmord, angesichts dessen, dass er seine Lotte nicht haben konnte, wurde bekanntlich imitiert. Es entstand das, was wir heute „Codes“ in der Liebe nennen. Die Menschen lasen Liebesromane und in den Romanen wurde ihnen vermittelt, was Liebe ist und wie sie sich auszudrücken hat. Frauen lernten dabei auch etwas über die Regeln der Verführung, die die Männer anwandten, waren also gewarnt. Die Verführung funktionierte trotzdem.
Die Ausdrucksformen der Liebe wurden von vielen durch das Lesen erlernt, schon bevor man sich verliebte – man stimmte sich mit diesen romantischen Bilderwelten auf die Liebeserfahrung ein. Das ist heute gar nicht so anders bei unseren Adoleszenten, die mit ihren Songs, in denen die Liebe, mehr noch die Sehnsucht nach der Liebe, die Abwesenheit der Liebe besungen wird, sich auf die Liebe vorbereiten. Heutige Drehbücher für das Lieben stammen auch aus den Filmen.
Wie schließlich der Zugang zum Internet unsere Codes verändern wird, ist interessant zu verfolgen. So viel hat sich aber vielleicht auch gar nicht verändert.
Verliebtsein
Wenn wir verliebt sind, sind wir ganz und gar besetzt vom geliebten Menschen, fühlen uns zu ihm oder zu ihr hingezogen, wollen eins sein mit diesem Menschen – körperlich, seelisch, geistig. Als Verliebte wollen wir einander alles geben, was wir haben, sind wir freigebig. Wir interessieren uns für alles und jedes, was auch den geliebten Menschen interessiert – und so werden wir auch immer interessanter füreinander.
Verliebte leben in einer eigenen, von anderen Menschen etwas abgetrennten Welt, die sie im hohen Maße befriedigt. Im Gestalten dieser Welt lernen wir als Verliebte fast spielend, was den anderen Menschen erfreut, was ihn bekümmert, auch, wie wir mit einander umgehen müssen, damit noch mehr Freude entsteht, vor allem Freude aneinander. Das bedeutet natürlich auch, dass wir mitlernen, was den anderen Menschen stören, was ihm wehtun kann. Aber in dieser Phase des Glücks sind wir nur darauf aus, den anderen Menschen auf jede Weise zu fördern – und uns selber mit ihm. Der Egoismus scheint überwunden: Gehen wir im anderen auf, werden wir doch zugleich auch vom anderen erkannt und anerkannt, wie nie zuvor, und werden uns in der Hingabe aneinander auch selber zurückgegeben. Geteilte Liebe mehrt sich, geteilte Freude mehrt sich.
Eine Verbindung von Eigeninteresse und Selbstlosigkeit wird möglich, im Wissen, dass Selbstlosigkeit in der Zuwendung nur wieder neue Liebesintensität hervorbringt. Wir lernen nicht nur unser eigenes Begehren, unsere eigene Lust kennen, wir möchten auch, dass der andere Mensch unser Begehren spürt: Die eigene Lust entzündet sich im besten Fall an der Lust des anderen – und wird zu gesteigerter Lust. Daraus kann der Überschwang entstehen, der zur Liebe gehört, der sich spontan ereignet, und den man nicht einfordern kann.
Sind wir verliebt, dann sehen wir die besten Möglichkeiten in einen Partner, eine Partnerin hinein. Vielleicht entsteht Liebe nur dann, wenn wir in einen geliebten Menschen seine besten Möglichkeiten erkennen und diese dann im Laufe der Beziehung aus ihm, aus ihr, auch herauslieben können: Möglichkeiten, die uns beide über die Grenzen des bisherigen Gewordenseins hinaustragen, und die das Leben auf eine Weise öffnen, wie wir es uns zuvor nicht im Traum hätten vorstellen können.
Und indem wir die besten Möglichkeiten eines geliebten Menschen sehen – oder auch aus ihm herausholen – gewinnen wir als Liebende Anteil an ihm; auch in uns selber werden Aspekte unserer Persönlichkeit wach, die über das hinausgehen, was wir bisher geworden sind, worauf wir uns vielleicht auch bisher festgelegt hatten.
Wenn wir lieben, dann ist das ein Aufbruch: vermeintlich Festgelegtes kann verflüssigt werden, innere und äußere Grenzen können überschritten werden.
Danach sehnen wir uns. Solche Sehnsucht zieht uns. Sie ist ein letztlich unstillbares Verlangen nach einem Absoluten, nach etwas, das über uns hinausgeht und eigentlich zu groß für uns ist: ein Verlangen nach Liebe, Schönheit, Freiheit, Ganzheit, Frieden, nach dem ganz Anderen, dem Unbenennbaren, das im Verlangen aber durchaus existent ist. Diese Sehnsucht kann nie erfüllt werden. Dazu ist sie auch nicht da. Sie färbt aber unsere kleineren konkreteren Sehnsüchte und Wünsche, und gibt die Energie, sie auch zu verwirklichen.
Die Sehnsucht nach dem Absoluten wird heute fast nur noch im Zusammenhang mit der Liebe beschrieben: als die Sehnsucht, sich mit einem geliebten Du zu vereinen, und dann ganz zu sein, heil zu sein, sich selbst gefunden zu haben, ein erfülltes Leben zu haben. Die Sehnsucht nach der Ganzheit, nach dem Selbst in der Jungschen Terminologie, und die Sehnsucht nach Liebe können kaum voneinander unterschieden werden. Das Selbst ist symbolisch oft im Symbol der Vereinigung der Gegensätze, also in Gestalt eines Liebespaares ausgedrückt.
Die Bedeutung, die die Liebe in der Romantik hatte, mit ihrem weltanschaulichen Hintergrund, ist unterschwellig immer noch mit vorhanden, in der Sehnsucht nach den grossen Gefühlen, der Passion, in der Sehnsucht, die uns alles sonst noch Gegebene und vor allem uns selber transzendieren lässt. Der Soziologe Ulrich Beck spricht im Blick auf die Liebe von einer „Religion nach der Religion“. Seine Idee: „Wir lieben, verehren und ersehnen letztlich die Liebe.“ 3 Die ganze spirituelle und körperliche Sehnsucht gilt dem Lieben. Erlösung verspricht man sich in der Umarmung mit einem anderen.
Es ist fraglos, dass die Liebe heute viel von der Religion übernommen hat – nach von Matt war sie schon in der Romantik die „Gegenreligion“. Das ist sie heute in noch radikalerem Sinn geworden, da die konventionelle Religion für viele nicht mehr gilt.
Liebe hat nach Beck etwas von der Religion übernommen: zum Beispiel die Idee, dass man durch die Liebe erlöst werden könne. Aber: Gab es diese Vorstellung nicht schon immer? Im Eros von Plato schwingt sie mit, aber auch in den vielen Märchen von „La Belle et la Bete“. „der Schönen und dem Tier“, das immer noch Vorlage für Filme ist, Märchen, in denen es um die Erlösung des Hässlichen, Verwünschten, Tierhaften geht – durch die Liebe, auch durch das Mitgefühl. Kompensiert heute die Liebe die fehlende Religion, oder ist Religion schwächer geworden, weil die Bedeutung der Liebe in der Vorstellung heutiger Menschen stärker geworden ist? Überfordert man aber nicht auch in gefährlicher Weise die Liebe und die Liebenden, wenn man Erlösung und letztlich Gefühle der Ganzheit von ihr erwartet?
Beziehungsphantasien
Die Phase des Verliebtseins ist nur eine Phase der Liebe, aber eine solche, in der das Imaginäre eine besonders grosse Rolle spielt: Wir kennen in der Verliebtheit den Anderen oder die Andere normalerweise noch kaum, meinen aber, ihn oder sie seit Ewigkeiten zu kennen. Ständig sind wir beschäftigt mit Vorstellungen: der Liebesdiskurs läuft unermüdlich in unserem Inneren ab: Alles wird bedeutungsvoll und von den Liebenden aufeinander bezogen (z.B. auch schönes Wetter oder die zufällige Begegnung mit einer Schwalbe). Ständig begleitet uns dieses innere Fragen: Wird er…? Wird sie…? Hätte er nicht doch…? Oder auch das Ausphantasieren: Wie schön wird unser Leben miteinander sein? Wie lustvoll? Wie werden wir uns miteinander verändern? Was steht uns alles zu zweit offen? Auch Angst kann gelegentlich schon hineinspielen: Kann ich mich wirklich auf den anderen verlassen oder werde ich ihn oder sie eines Tages doch wieder verlieren? Werde ich diese heftigen Gefühle durchhalten können? Natürlich weiß man, dass bei anderen Menschen die Verliebtheit mit der Zeit wieder nachgelassen hat – aber doch nicht bei uns! Die leise Angst steigert die Erregung noch.
Liebe und Liebesbeziehungen sind ein uraltes Thema – und deshalb gibt es auch uralte Muster dafür: nicht nur die äußeren Codes, die medial vermittelt sind, sondern auch die alten
Phantasiemuster, wie sie uns in Mythen überliefert sind, so am Beispiel des hinduistischen Götterpaares Shiva und Shakti das Muster des „Einander – ganz – Gehörens“:
Als sich Shiva und Shakti endlich gefunden haben, mögen sie sich überhaupt nicht mehr trennen: sie leben in ständiger Umarmung, sind „ineinander Genügte“, wie Rilke das nennt. Shakti hat zwar gelegentlich leise Wünsche nach etwas mehr Distanz: Sie hätte gerne ein Haus, einmal als Schutz gegen die Sonne, einmal gegen den Regen. Shiva aber braucht kein Haus, die Sonnenzeit verbringen sie beide in ewiger Umarmung unter den Schattenbäumen, während der Regenzeit geht die Umarmung über den Wolken weiter. Als Shakti stirbt, ist Shiva zerstört – einer der berührendsten Trauerprozesse wird hier geschildert.
Ganz anders sieht die Beziehung zwischen Zeus und Hera aus, dem Götterpaar der alten Griechen, von dem einige denken, sie wäre das Modell für die mitteleuropäische Ehe geworden: Zeus als der ewig Affären suchende Gott, Hera, die keifende Ehefrau zu Hause. Die beiden, haben das Problem von Nähe und Distanz im Streiten gelöst: da haben sie optimale Nähe bei optimaler Distanz.
Die Beziehungsphantasien sind wichtig: entsprechen sie sich nämlich in etwa bei beiden Beteiligten, dann wagen diese Beiden, eine feste Beziehung einzugehen und eine Welt zu zweit aufzubauen. Entsprechen sich die Beziehungsphantasien nicht, dann bleibt es bei einem „Strohfeuer“ und die Verliebtheit wird nicht zur Beziehung ausgebaut. Die Verliebtheit bleibt trotzdem eine wichtige Phase im Leben eines jeden der beteiligten Menschen, in der bei jedem neue Seiten belebt und Sehnsüchte wach geworden sind, die ein Leben verändern können. Es kann allerdings auch ein schmerzhaftes Verlusterlebnis sein.
Identität
Liebe hat einen großen Einfluss auf das Identitätserleben und das Selbstwertgefühl. Das ist besonders bei Adoleszenten gut erforscht. Warum? Ein Jeder, eine Jede zeigt sich in der Verliebtheit in der persönlichen Identität, steht damit auch für sein Sprechen und Handeln in der Liebe ein – die bisherige Identität soll sich aber auch durch die Liebe verändern. Es ist ein wesentlicher Aspekt der Liebe, dass man seinem Partner, seiner Partnerin immer wieder zeigt und ihn oder sie erfahren lässt, wie man durch diese Liebe sich schon entwickeln konnte und sich noch immer weiter entwickeln kann.
Im Lieben findet ein ständiger Austausch statt, wir Menschen spiegeln einander – zunächst meist in einer idealisierten Weise. Das heißt aber nicht, dass Liebende nur blind seien – gewiss, sie blenden aus – es bedeutet aber auch, dass viele der Möglichkeiten, die im anderen wirklich angelegt sind, endlich gesehen und belebt werden. Wir werden in der Liebe einander immer wieder Rückmeldungen geben, zu unserem Erleben miteinander, zu unserem sexuellen Begehren und Befriedigen, aber auch zu unserem Tun und Lassen überhaupt, zu unseren Werten. Gefühle der Identität und des Selbstwerts werden so immer wieder belebt und auch gesteigert. Es ist besonders belebend für uns, wenn unser Selbstbild positiv gespiegelt wird: Sartre war der Ansicht, dass Liebe nur dann entstehe, wenn uns jemand so ansieht, wie wir selber insgeheim möchten, dass wir gesehen werden. Wir alle kennen Menschen, die plötzlich – durch eine Liebe – überraschenden Charme und große Ausstrahlung gewinnen. Schwierig wird es, wenn nicht mehr der freundliche, bewundernde Blick uns trifft, sondern nur noch der kritische, abwertende.
Der fließende Übergang
Das Stadium der leidenschaftlichen Verliebtheit ist ein körperlicher und seelischer Ausnahmezustand. Verliebtheit wird sogar als Wahn beschrieben, der allerdings nicht weiter auffällt, weil alle gelegentlich von diesem Wahn ergriffen sein können, auch als Sucht wird Verliebtheit betrachtet, da beim Zerbrechen einer Liebesbeziehung bekanntlich ein psychischer Zustand entstehen kann, der einer „Entzugserscheinung“ gleicht.
Wir wissen, dass Sich-Verlieben wohl das Lebendigste und auch Verrückteste ist, was uns in unserem Leben passieren kann. Die romantische Verliebtheit aber hat ihre Zeit. Die Beziehung wird allmählich alltäglicher, die sexuelle Anziehung wird etwas geringer; die hormonellen Ausschüttungen sind vertrauter geworden. Die Zeit der unendlichen Möglichkeiten weicht der Zeit der begrenzten Wirklichkeiten. Was Fantasie war, wird, so weit es geht, umgesetzt und ersetzt durch Realität.
Die Welt der anderen „draußen“, außerhalb der Beziehung, findet nun auch wieder mehr Interesse. Jetzt geht es darum, die Beziehung zu gestalten, auszugestalten, dass sie im Alltag bestehen kann. Visionen sind zeitlos, die Realisierung dieser Visionen im Leben eines Paares unterliegt jedoch dem Zwang der Zeit. Veränderungen müssen durchgetragen werden. Aus der Welt des wunscherfüllenden Imaginären wird man nach und nach vertrieben.
Die großen Gefühle des Anfangs, die Erfahrungen des Verliebt Seins, können jedoch als Ressource für die Liebesbeziehung betrachtet werden, an die man sich zurück erinnern, auf die man sich auch zurückbeziehen kann.
Denn im Frühling der Liebe ist schon viel auf Zukunft hin angelegt: etwa die Sprache der Liebe: eine Sprache der Augen, der Hände, des Tastens, des Riechens, eine Sprache der Begeisterung, des Überschwangs. Sie ist vor allem eine Sprache der Wertschätzung, die den Selbstwert desanderen steigert.
Es gibt auch in dieser frühen Phase der Liebe schon Verhaltensregeln, die der Liebe, der Intimität implizit und selbstverständlich zu sein scheinen, so dass man sie in der Verliebtheits-Phase spontan und ohne Mühe erfüllen kann. Später braucht es bewusste Verantwortung dafür. So ist man etwa „prinzipiell für alles am anderen aufgeschlossen“, man hat und zeigt Interesse an allem, was dem anderen Menschen wichtig ist, man lässt keine Fragen unbeantwortet, besonders, wenn sie auf Persönliches zielen.
Das sind drei Kommunikationsregeln, die Luhmann für eine einigermassen gelingende Liebesbeziehung für unabdingbar hält, auch wenn sie graduell verschieden sein können. Dabei werden die Informationen gleichsam dupliziert: Was bedeuten sie jeweils für mich, was für den Partner, was für die Partnerin? (S. 25) Man beobachtet jeweils auch für den Partner, für die Partnerin mit – und kann ihm oder ihr in manchem, was zu sagen und zu tun ist, auch zuvor kommen.
Diese kontinuierliche Aufmerksamkeit und auch Handlungsbereitschaft in Bezug auf den anderen – kann nach Luhmann Liebe symbolisieren. (S. 44) Sexualität allein kann das in der heutigen sexualisierten Welt nicht. Auch diese Kommunikationsregeln tönen ideal. Real gelebte Liebe hat es aber mit der ganz normalen Ambivalenz der Liebe zu tun.
Differenzen werden sichtbar und angesprochen, Unverträglichkeiten lassen sich nicht mehr zukleistern. Man muss sich miteinander auseinandersetzen, sich miteinander, aneinander, gegeneinander entwickeln.
Die Ambivalenz in der Liebe ist kein Fehler, sie bewirkt vielmehr, dass Menschen in einerLiebesbeziehung zwar aufgehen, sich aber auch als Einzelne weiter entwickeln können und dass sich auch die Liebesbeziehung selbst, als Beziehung, weiter entwickelt.
Was die Verliebtheit ausmacht, nämlich große Nähe und ein miteinander Verschmelzen, verbunden mit einer gewissen Freiheitsbeschränkung für den einzelnen, die beide zunächst bejahen – eben dies bringt die Verliebtheit letztlich auch zu Fall.
Die Freiheit wurde zwar freiwillig aufgegeben – etwas Ungeheures für heutige Menschen – allerdings in der Hoffnung, durch die Liebe letztlich eine noch größere Freiheit zu gewinnen.
Das trifft aber nicht automatisch zu: Abhängigkeit und Autonomie werden vielmehr zunehmend ein wichtiges Thema für das Paar.
Menschen streben nach einer vertrauensvollen, verlässlichen Bindung. Das ist biologisch in uns angelegt. Als Menschen müssen wir aber auch ein jeder für sich selber sein können, für sich selber einstehen können, müssen auch immer wieder Autonomie erfahren und entwickeln. Der Mensch muss auch frei sein können, auch innerhalb der Bindung.
Auch die Idealisierung, die zum Verliebt Sein gehört, kann nicht auf Dauer aufrechterhalten bleiben. Es geht dabei nicht nur um die kleineren Ärgernisse, die man dem geliebten Menschen nachsieht; Ideal und Wirklichkeit können vielmehr allzu weit auseinander klaffen.
Enttäuschungen greifen um sich: der Mensch, auf den man sich eingelassen hat, erfüllt längst nicht alle Erwartungen, die man anfangs an ihn hatte – erfüllt vielleicht sogar einige wichtige Erwartungen überhaupt nicht. Diese Erfahrung miteinander kann ein Anreiz zu hitzigen Debatten und auch zur Weiter-Entwicklung sein: Es fragt sich, ob noch entwickelt werden kann, was fehlt, oder ob man sich gemeinsam zu einem “Mut zur Lücke“ in der Beziehung entschliessen wird?
Oder aber: Beginnt hiermit vielleicht auch die Abwägung, was wir von dieser Liebe haben? Unter der Hand kann sich so eine Liebesbeziehung in eine Geschäftsbeziehung verwandeln. Auch die sexuelle Anziehung wird geringer: Die zunehmende Sicherheit in der Bindung bringt Geborgenheit, bringt – Zuwachs an Vertrauen -, dabei gehen aber Distanz und Fremdheit, die für die sexuelle Leidenschaft wichtig sind, etwas verloren. Zuviel Gewissheit bedingt weniger Begehren. Dennoch möchte man die Vertrautheit nicht missen, so wenig wie die sexuelle Anziehung.
Beziehungen und Beziehungsphantasien verändern sich. Es gibt Zeiten größerer Nähe und Zeiten größerer Distanz. Zeiten, in denen das Beziehungsselbst, Zeiten, in denen das individuelle Selbst mehr im Vordergrund steht.
Was verstehe ich unter dem Beziehungsselbst?
Das Beziehungsselbst entsteht dadurch, dass Menschen, die miteinander eine Beziehung haben, sich immer wieder anblicken: im Auge des Gegenübers sehen wir uns selbst, wissen wir uns bestätigt, als das Besondere gesehen, das wir auch sind – aber auch in Frage gestellt. Jeder Mensch blickt uns in einer ganz besonderen Weise an, und sieht uns – immer wieder – auf seine Weise.
Ausdruck des Beziehungsselbst ist aber auch das gemeinsame Wirken, sind die Werke, die wir miteinander vollbringen und noch vollbringen werden. Diese „Werke“ können reale Kinder sein, es können auch Unternehmungen sein, etwas, das wir miteinander aufgebaut und gestaltet haben, Pläne, Ideen, die auch in die Zukunft weisen: alles, was wir einmal miteinander auf die Beine gestellt, was wir miteinander gestaltet haben. Und zwar wirklich miteinander – dadurch, dass wir einander angeregt, herausgefordert, aufgeregt haben. Vielleicht haben wir auch Dinge gestaltet, an denen der Partner, die Partnerin wenig Anteil hatte – das war dann ausdrücklich unser eigenes, Gesondertes – aber in den meisten Beziehungen können auch Dinge realisiert werden, die man alleine nicht schaffen würde, weil man einander dazu anregt, weil man es voneinander erwartet und erhofft, weil man zu zweit mehr, aber auch weniger ist als allein…
Das Beziehungsselbst zeigt sich auch in den gemeinsamen Freuden, etwa an kulturellen Ereignissen, daran, Ideen miteinander immer weiter auszuspinnen. Das Beziehungsselbst ist ein gemeinsames dynamisches Selbst. Zum Beziehungsselbst gehören – und das ist der wichtigste Aspekt – die Ergänzungen und Erweiterungen des Selbst, die für beide Beteiligte durch die gelebte und gestaltete Beziehung mit dem geliebten Menschen möglich geworden sind.
Natürlich werden – meistens nicht am Anfang, sondern im Gang der Beziehung, auch Eigenheiten belebt, herausgezwängt, die man als weniger positiv bewertet: Die Frau, die bis dahin immer sehr vertrauensvoll, sich in ihrer Beziehung so oft belogen fühlte, dass sie misstrauisch wurde – kein schönes Lebensgefühl.
Verlieren wir einen Partner, eine Partnerin, so verlieren wir zugleich dieses Beziehungsselbst: es ist zu einem Abschluss gekommen. Im Trauerprozess müssen wir uns von diesem Beziehungsselbst auf unser individuelles Selbst zurück organisieren. Dabei brauchen wir die Eigenheiten, die durch die Beziehung geweckt, aus uns herausgeliebt worden sind, nicht verloren zu geben, auch wenn wir den Partner verloren haben. In allem nämlich, was der Partner aus uns herausliebte, hat sich die Beziehung in uns selber niedergeschlagen, und darin leben die Menschen, die wir verloren haben, weiter mit, was wir in Dankbarkeit und Wehmut immer wieder erfahren können.
Distanz und Nähe
Kann in einer Liebesbeziehung sowohl das Beziehungsselbst als auch das individuelle Selbst gelebt werden, dann können wir unsere eigene Integrität wahren und doch auch wieder miteinander verschmelzen. Nähe und Distanz sind in jeder Liebes-Beziehung gleichermaßen gefragt. Distanz schaffen wir immer wieder neu durch Auseinandersetzung, durch den Ärger übereinander, durch das sich Streiten; Nähe durch Verzeihen und Versöhnen. Wir ärgern uns am meisten in den Beziehungen, die uns sehr wichtig sind, also in unseren Liebesbeziehungen, aber auch überhaupt in Beziehungen zu den Menschen, die uns am nächsten stehen.
Mit Ärger reagieren wir auf Situationen, in denen andere Menschen die Grenzen überschreiten, physisch und psychisch, die wir respektiert haben möchten: Wenn wir beleidigt werden, körperlich angegriffen, wenn andere über uns bestimmen wollen. Ärger erleben wir auch dann, wenn andere uns daran hindern, unsere Grenzen auszuweiten, uns zu verändern, etwas Neues zu entwickeln. Ärger ist die Emotion, die im Dienste der Selbsterhaltung und der Selbstentfaltung steht, im Dienste der eigenen Integrität und der Entwicklung. Beide Partner müssen um die eigene Selbsterhaltung und Selbstentfaltung besorgt sein – beide möchten aber auch eine verlässliche, vertrauensvolle Bindung haben.
In Liebesbeziehungen dürfen wir natürlich dem geliebten Menschen näher kommen als in Nicht-Liebesbeziehungen, wir dürfen einander auch einmal über die Grenze gehen – denn Liebe an sich bedeutet ja unter anderem auch, dass die Grenzen, die wir normalerweise um uns ziehen, offener sind; wir haben uns geöffnet für einen anderen Menschen in einer speziellen Weise. Aber gerade deshalb ist es wichtig, eine Grenzsensibilisierung dort vorzunehmen, wo die Grenzen dann dennoch vorhanden sind, vorhanden sein müssen.
Wir wollen verfügbar sein füreinander, einander beistehen. Die Gefahr, dabei auszunutzen oder ausgenutzt zu werden, ist dadurch auch gegeben.
Drücken wir den Ärger darüber aus und korrigieren wir dementsprechend unser Verhalten, dann können wir uns vielleicht auch einander zumuten, ohne eine Zumutung zu sein. Es braucht auch eine Sensibilisierung dafür, wenn eines der beiden die Grenzen ausweiten will, sich entwickeln will, was dem anderen nicht gefallen muss, weil sich dadurch die Beziehung verändert. An diesen Reibereien etablieren und verändern sich Grenzen innerhalb einer Liebesbeziehung. Wir haben aber oft die Tendenz, unseren Ärger hinunter zu schlucken und meinen vielleicht, damit besonders beziehungsdienlich zu sein.
Die Auseinandersetzung mit dem Ärger ist ein hochsensibles Gebiet. Viele Menschen betonen, dass sie sich nicht ärgern, da sie ihren Partner, ihre Partnerin ja lieben. Dennoch sind sie voll von Vorwürfen und Groll – ein Zeichen dafür, dass sie ihren Ärger im richtigen Moment nicht so formulieren, dass er produktiv für die Beziehung werden kann. „Man wird doch nicht jeden kleinen Ärger benennen“, sagt eine Frau, die jetzt zugleich merkt, dass sie keine Liebe zu ihrem Mann mehr spürt, und die Ehe nunmehr als Geschäftsbeziehung empfindet“. Sie hatte „immer geschwiegen“, sich allerdings auch ein wenig gerächt, etwa dadurch, dass sie ihrem Mann selten etwas Liebevolles, dafür viel Saures gab, dass sie sofort und intensiv zu gähnen begann, wenn er ihr etwas erzählte – ihm also nonverbal mitteilte, er sei zum Gähnen langweilig.
Es ist also sinnvoll, den Ärger dann zu formulieren, wenn er noch in menschlicher Art geäußert werden kann. Wer im Laufe einer Auseinandersetzung aber einmal richtig gekränkt und gedemütigt worden ist, wird zunächst sein aus der Balance gekommenes Selbstwertgefühl stabilisieren müssen. Wurde man doch zuvor in dieser Paarbeziehung einmal idealisiert, wurde einem doch immer wieder bestätigt, dass man ein wertvoller Mensch sei, und jetzt anstelle dieser Wertschätzung plötzlich harsche Kritik! Das ins Schwanken geratene Selbstwertgefühl muss wieder stabilisiert werden. Und das geschieht häufig zunächst mit einer Rachefantasie, die ja nicht notwendigerweise in die Realität umgesetzt werden muss. Diese Rachephantasie vermittelt aber das Gefühl, auch wieder Oberhand bekommen zu können. Im schlimmsten Falle wird ein schlechtes Selbstwertgefühl durch Gewaltanwendung kompensiert.
Mit einem habituell hinreichend guten Selbstwertgefühl, das sich daran zeigt, dass man auchüber Kränkungen innerhalb einer vernünftigen Frist hinwegkommt, kann man sich besser mit einem anderen Menschen auseinandersetzen. Mit einem hinreichend wieder hergestellten Selbstwertgefühl kann man sich dann auch streiten. Bei gutem Streiten geht es nicht darum, dass einer oder eine gewinnt, sondern dass man herausfindet, welches Problem dem Streiten zu Grunde liegt, und gemeinsame Lösungen für dieses Problem sucht. Streiten entzweit, schafft Abstand: zwei stehen sich vielleicht wutentbrannt gegenüber. Gerade dieser Abstand kann aber auch bewirken, dass wir den anderen wieder besser sehen und auch, dass wir wieder spüren, dass wir den anderen Menschen auch gern haben, so dass wir uns einfühlen können und der Wunsch aufkommt, dass es uns miteinander wieder gut gehen möge…
Die Sehnsucht nach Versöhnung, nach dem wieder Ganzwerden der Beziehung, kann sich nun Bahn brechen. Wir wollen uns wieder umarmen, einander wieder freundlich ansehen können oder zumindest miteinander in die gleiche Richtung schauen.
Akzeptanz des Schattens
Wir streiten besser und wir versöhnen uns besser, wenn wir unseren eigenen Schatten, aber auch den des Partners, der Partnerin, aber auch den möglichen Beziehungsschatten, den Schatten, der sich durch das Einwirken von beiden aufeinander ergibt, akzeptieren können. Dann ist es uns nämlich möglich, zu sehen, was wir selber zu der Situation beigetragen haben. Wer gelernt hat, dass auch der liebste Mensch nie nur lieb ist – und das lernen wir in der Kindheit – wenn wir gut genug gebunden sind, wird auch in einer Liebesbeziehung, und sei es zähneknirschend, akzeptieren, dass der Partner, die Partnerin, genau wie man selbst, Seiten hat, die einem gründlich missfallen. Über diese muss man nicht hinwegsehen – man soll sie ruhig explorieren – und hat dann auch die Möglichkeit, wieder zu den Gefühlen von Liebe hin zu finden. Man kann dann auch etwas einmal wieder gut sein lassen.
Sind wir aber der Ansicht, dass kein Schatten auf unsere Beziehungen fallen darf, dann werden wir nicht anders können, als mit Vorwürfen oder gar mit Hass zu reagieren. Wer sich selber mit Ecken und Kanten akzeptieren kann, kann das – manchmal mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung – auch beim Partner oder der Partnerin. Das ergibt eine Beruhigung: man kann darauf vertrauen, nicht bei jeder Fehlhandlung gleich ausgetauscht zu werden. Hat man zunächst in der Verliebtheit zu einem weitgehend fremden Menschen Ja gesagt, so ist jetzt ein neues Ja nötig – zu einem Menschen, der mehr und mehr vertraut geworden ist, den man auch in seinen Schwächen und Banalitäten zu sehen wagt, der immer einmal auch lästig ist. Und dieses Ja ist immer wieder einmal nötig.
Ein besonderes Problem ist der Liebesverrat: das Thema von Treue und Treulosigkeit
Der Liebesvertrag, trivial das Versprechen: „auf ewig dein“, entspringt nicht bereits dem Misstrauen, sondern der Erfahrung der Zeitlichkeit in der Liebe (von Matt. S. 127ff). Man weiß, dass diese leidenschaftlichen Situationen, in denen man gelegentlich so etwas wie einen zeitlosen Moment, einen Moment von „Ewigkeit“ erlebt – ein Ende haben wird. Diese Erfahrung von Ewigkeit, obwohl man spürt, dass es keine Dauer, zumindest nicht der aktuellen Gefühlslage, der Erfahrungen und Stimmungen geben wird, wird in die Zukunft projiziert: es soll immer so bleiben, wir wollen, dass es so bleibt. Wenn es niemandem sonst gelingt, uns wird das gelingen. Mit der ganzen Identität, mit allem, was wir sind, stehen wir dafür ein. Es ist eine bindende Abmachung für die Dauer in der Zeit, also in der Vergänglichkeit. Eine der vielen Paradoxien der Liebe: sie ist in ihrem Wesen so sehr frei – aber sie will das bindende Wort, und damit verbunden oft auch ein Ritual der Bindung. Die Liebe soll eine Form bekommen – und man weiss, dass ihr zu viel Form nicht immer bekommt.
Der Liebesvertrag, wenn eingegangen, kann in vielfältiger Weise gebrochen werden. Natürlich muss man sich fragen, was denn Treue beinhaltet, und was denn als Treuebruch zu verstehen ist. Für heutige Paare ist das durchaus ein Diskurs wert. Ereignet sich dann aber ein so genannter Treuebruch, werden auch heute noch geradezu archaische Gefühle wach. Man spricht dann von Einbruch, von Diebstahl… Gefängnisterminologie!
Untreue ist ein Thema der Mythen, es ist ein Thema der Literatur, es ist ein Thema in unseren therapeutischen Praxen – und es wird wohl immer ein Thema sein.
Hephaistos, z.B. ist im griechischen Mythos der göttliche Schmid: ein hässlicher, hinkender, schwarzer Mann, der allerdings wunderbare Kunstwerke zu schaffen vermag. Hephaistos ist verheiratet mit Aphrodite, der Göttin der Liebe, aber auch der Verkörperung der Leidenschaft schlechthin. Aphrodite ist nicht treu. Sie hat viele sexuelle Abenteuer – sie ist so verführerisch…
Hephaistos nun, der Hässliche, hat einen sehr schönen Bruder, den Kriegsgott Ares, und mit ihm geht Aphrodite eine Außenbeziehung ein. Natürlich will Hephaistos sich rächen: so verfertigt er ein feines, unzerreißbares, unsichtbares Netz, das er um sein Ehebett anbringt, unsichtbar für alle – aber man wird darin garantiert gefangen. So kann er die Treubrüchigen gefangen nehmen und zur Rechenschaft ziehen.
Heutige Problematik
Peter von Matt, der sich mit den Treulosen in der Literatur beschäftigt, stellt fest, dass Treulosigkeit heute angesichts der radikalen Lockerungen in den Liebes- und den Lebenssitten der Paare, nicht mehr eindeutig zu definieren sei, sie werde aber trotzdem erlebt – als Schuld, sogar als Wahnsinn, oder sie treibe gar zum Mord aus Eifersucht (von Matt S. 393). Er stellt weiter fest, dass seit den 80er Jahren in der Literatur nicht mehr so sehr der Verrat im Zentrum steht, sondern die „Einsamkeit des moralischen Subjekts“, schon zu Beginn der Liebe, das angesichts von Verrat an der Liebe, von fremder und eigener Schuld, hilflos ist, weil in dieser Hinsicht heute Gericht und Gesetz fehlen. Einsam ist der Verratene auch in der Beurteilung eigenen Verhaltens, erst recht des Partners und der Partnerin.
Somit sind wir wieder bei der Liebe in der Individualisierungsgesellschaft (Beck) angelangt.
Die Individualisierung hat uns viel gebracht, viel Freiheit; Autoritäts- und Gruppenzugehörigkeit sollen dabei weniger geworden, vielleicht schon überwunden sein. Sie bringt aber gerade dadurch auch einen Mangel an Orientierung. Liebe in dieser gesellschaftlichen Situation sei eigentlich unmöglich: was Liebe sein könnte, sein sollte – das könne nicht mehr vorausgesetzt werden. Alles müsse von den Einzelnen neu abgesprochen und verhandelt werden, so Beck. (Beck, Das ganz normale Chaos der Liebe)
Wir erinnern uns: „Die Köstlichkeit, die Symbolkraft, das Verführerische, Erlösende der Liebe wächst mit ihrer Unmöglichkeit.“ Dass Liebe unmöglich ist, wird dabei aus den Scheidungszahlen geschlossen. Karl Otto Hondrich, der Frankfurter Soziologe, widerspricht Beck nicht grundsätzlich in der Diagnose der Individualisierung, relativiert diese aber: Gewiss seien wir frei, einen Menschen zu wählen, mit dem wir eine Liebesbeziehung haben wollen. Wer aber gewählt hat, und dann mit einer Trennung konfrontiert wird, kann in dieser Situation nicht mehr wählen.
Dieser Zwang kommt heute nicht mehr aus der Tradition, nicht von einer Autorität, sondern aus dem Wesen dieser Beziehung, die aufgelöst wird. Es ist das Fortdauern der Beziehung, obwohl man sich getrennt hat, das verunmöglicht, dass neu gewählt werden kann. In dieser Situation, so beobachtet Hondrich, wenden wir uns auch heute oft den Beziehungen zu, die bereits lange bestanden haben und die wir gerade nicht individualistisch gewählt haben wie: Eltern, Geschwister, Freunde usw. (S.52)
„Der Individualisierungsprozess, der in der Trennung des Paares, also in der Auflösung einer Wahlbindung gipfelt, führt heute oft wie in einer Gegenbewegung zur Rückkehr aus dieser Wahlbindung in nicht gewählte Herkunftsbindungen.“- und macht uns damit wieder konservativ, indem wir beim Hergebrachten, nicht frei Wählbaren Zuflucht suchen. Diese Bewegung nennt er Rückbindung. Bei Beziehungskonflikten werden also nach Hondrich die alten Familien- und Freundschaftsbeziehungen und damit auch die alten Werte und Beziehungsvorstellungen wieder reaktiviert.
Das tönt, psychodynamisch gesehen, überzeugend – man weiß nur nicht so recht, ob man sich darüber freuen soll.
Und er geht noch weiter: man löst Liebesbindungen auf, weil man die Idee der Liebe und der Ehe retten will. (S.55) 11 Damit meint er, dass die Ehe zwar „als individuelle Willens- und Notgemeinschaft schwächer wird, und trotzdem als kollektive Vorstellung vom Liebespaar stärker.“ (S.57)
Individualisierung hat in sich eine inhärente Gegentendenz, etwas Gegenläufiges. Und Hondrich ist überzeugt, dass mit der Sehnsucht nach Liebe und harmonischen Beziehungen auch die nächsten Generationen leben werden – Phantasien, die uns eigen sind, weil wir Menschen sind.
Natürlich sind diese Phantasien alte Muster, die in Literatur, in den Medien perpetuiert werden. Da stimmt Hondrich mit Luhmann überein, der der Ansicht ist, dass das „Wagnis Liebe und die entsprechend komplizierte, anforderungsreiche Alltagsorientierung“ nur möglich sei, wenn man sich dabei „auf kulturelle Überlieferungen, literarische Vorlagen, überzeugungsmächtige Sprachmuster und Situationsbilder, kurz: auf eine tradierte Semantik stützen kann.“
Eine solche literarische Vorlage zur Liebe haben wir im Hohen Lied:
Das Hohe Lied (4. Jh. v. Chr.), eines der bekanntesten Liebesgedichte, stammt aus der Bibel. Es geht dabei nicht um ein einzelnes Lied, sondern um eine Sammlung von altorientalischen Liebesliedern, die auch ägyptischen Hintergrund verraten. Interessant daran ist, wie Frau und Mann sich hier vollkommen ebenbürtig auf Augenhöhe begegnen, und wie oft es die Frau ist, die eines der Lieder anstimmt und den Mann zur Liebe einlädt, wie die beiden leidenschaftlich sexuell einander begehren und einander genießen, und in immer neuen Bildern zeigen, wie fasziniert sie voneinander sind.
Das Hohe Lied gibt uns unter anderem eine Antwort auf die Frage, was die Liebe ist, aber auch, warum überhaupt Liebe.
33. Lied
Lege mich wie ein Siegel an dein Herz,
wie ein Siegel an deinen Arm.
Denn stark wie der Tod ist die Liebe,
hart wie die Unterwelt die Leidenschaft.
Ihre Brände sind Feuerbrände,
eine mächtige Flamme.
Große Wasser können die Liebe nicht löschen,
Ströme schwemmen sie nicht fort.
Gäbe einer Hab und Haus für die Liebe,
würde man ihn verachten?
Das Siegel an der Brust besagt: die Liebe zwischen den beiden ist nun besiegelt – und sie soll auch sichtbar sein. Es folgt der Vers, auf den es mir ankommt: „Denn stark wie der Tod ist die Liebe“.
Wie Liebe sich anfühlt, erleben wir, wenn ein geliebter Mensch stirbt, wenn alles, was die Liebesbeziehung ausmacht, zu einem Ende gekommen ist. Menschen sterben: so stark wie der Tod – und der ist stark – ist auch die Liebe.
Eine anthropologische Konstante wird hier benannt: so stark wie der Tod ist nur noch die Liebe. Es handelt sich bei diesem Vers um einen Parallelismus der Satzglieder, die einander in ihren Aussagen ergänzen. Der erste Halbsatz sagt in dieser offenen Weise: Die Liebe ist stark wie der Tod, – und eröffnet damit ein weites Assoziationsfeld um Liebe und Tod. Der zweite Halbsatz präzisiert und wendet das Verstehen in eine bestimmte Richtung: er sagt nicht mehr, warum wir lieben, sondern, was Leidenschaft eigentlich ist: „Hart wie die Unterwelt ist die Leidenschaft.“
So wenig wir dem Tod entgehen können, so wenig können wir der Leidenschaft entgehen, wenn sie uns ergriffen hat. Was es im Positiven bedeutet, sagt uns der nächste Satz:
Sie packt einen, raubt die Freiheit, macht einen aber auch stark, fast unüberwindlich. Ihre Brände sind Feuerbrände, eine mächtige Flamme. Große Wasser können die Liebe nicht löschen, Ströme schwemmen sie nicht fort
Deshalb… Damals wie heute: Trotz allem: Liebe
Prof. Dr. phil. Verena Kast
Eröffnungsvortrag am 17. April 2011 im Rahmen der
61. Lindauer Psychotherapiewochen 2011 (www.Lptw.de)