Kann Vergebung als Willensakt eingefordert werden, haben wir uns gefragt. Nun der erhobene Finger des Vaters, der Mutter, der Erzieherin, des Priesters, des Lehrers, deren „Du sollst“ klingt uns noch gut in den Ohren.
Was aber, wenn ich trotz aller Mahnungen, aller Hinweise auf Vernunft, aller Bitten nicht gegen meinen Groll, meine Wut, meine verletzten Gefühle nicht ankomme. Als ob Emotionen und Affekte sich auf eine moralische Pflicht reduzieren ließen!
„Du musst es nur wollen.“
Wie durchsichtig! Du musst es nur wollen als mühsam verbrämtes „Du sollst“. Wollen ja, aber müssen wollen? Vergeben ist nun mal kein purer Willensakt, sondern das Ergebnis eines langen Lernprozesses, einer persönlichen Reifung, die mich zu meinem Wollen führen kann. Also Ethik statt Moral! Moral gebietet, ordnet an, droht gar „Wenn Du nicht, dann…“, ist restriktiv. Ethik ist attraktiv. Ich tue es, weil ich es anstrebe, weil es mich anzieht. Es geht von mir aus.
„Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern“ (Mt. 6,12).
„Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, wird auch euch euer himmlischer Vater vergeben“, heißt es kurz danach, und weiter: „Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird auch euer Vater eure Verfehlungen nicht vergeben.“
Auf gut psychologisch heißt das: „Loslassen!“ – Tun wir das nicht, halten wir fest an Vorwürfen, verfolgen wir den anderen mit unserem Hass, kultivieren wir unsere Beschuldigungen und unsere Verbitterung, sind wir innerlich nicht frei. Da mögen wir sogar „objektiv“ im Recht sein, unser „Nicht-Loslassen“ beweist, dass wir besetzt (besessen) sind vom Dämon der Rachegedanken. Unfrei, fremdbestimmt! Damit kränken wir letztlich uns selbst. Das Regulationssystem unserer Seele konstelliert gar diese Eigenkränkung mit geistigen, seelischen Erkrankungen und Beziehungsstörungen – und das gerne auch in Oder/Und-Form. Denn es gilt: wer seine zwischenmenschlichen Beziehungen nicht in Ordnung bringt, darf nicht erwarten, dass es ihm „gut ergeht“. Systemisch gesprochen: Die Kraft des Ganzen und die darin gespeicherten Informationen kann den „An-Teilen“ des Ganzen nur dienlich sein, wenn diese bei sich sind, wenn diese mit sich übereinstimmen.
Kann ich mich nicht interindividuell aussöhnen, bin ich auch intraindividuell zerrissen.
Warum Vergeben in der Psychologie solange als Schwäche galt, das schauen wir uns am nächsten Mittwoch in Teil 4 an.
Hanswerner Herber