Eigenartig, dass Vergebung und Verzeihung solange in der Psychologie als Schwäche ausgelegt wurde, weil man sie mit Verdrängung in Verbindung brachte. Erst 1992 stellte Reinhard Tausch, Hamburg, fest, was die Folgen für den Vergebenden sind: „ Ein Änderung der Gedanken, Auffassungen und Einstellungen; im gefühlsmäßigen Bereich tritt als Folge … ein starker Umschwung ein; die Auswirkungen auf das Verhalten ergaben sich besonders in einem ungezwungeneren offeneren Kontakt zu der Person, die verletzt hatte. Auch auf die Menschen, denen vergeben wurde, wirkte sich die Vergebung aus: … unmittelbar… positive Gefühle und Gedanken während und nach dem Vergeben; … daß die Personen nicht mehr über das Ereignis grübelten, negative Selbstgespräche führten, sich selbst Vorwürfe machten. Zusammen mit den positiveren Gedanken und Gefühlen führte das überwiegend zu einer Minderung oder einem Fortfall psychosomatischer Beschwerden.“
Wir haben also festgestellt, dass die Formel „Du musst nur wollen“ nicht trägt. Damit Vergebung gelingt, bedarf es eines ordentlichen Stücks Arbeit. Die wird belohnt durch eine Fülle neuer Erkenntnisse und heilsamer Erfahrungen. Zuvor jedoch dürfen wir uns darüber klar werden, dass Vergeben nicht heißt, es wird wieder sein, wie früher. Im Verzeihen bitten wir eigentlich darum: „Lass es bitte, bitte wieder gut sein, lass es wieder so sein, wie es war!“
Kann man nach dem Brotbacken das Mehl zurückgewinnen?
Es ist unmöglich erlittenes Leid rückgängig zu machen. Deswegen ist Verzeihen eine Lüge: ich belüge mich, tue ich so, als wäre nichts geschehen. Um wie viel konstruktiver ist: ich nutze den Konflikt, um die Beziehung zu vertiefen.
Vergeben heißt nicht, auf die Rechte zu verzichten. Die Gerechtigkeit wird sich darum kümmern, auf einer objektiven Grundlage. Es geht um ein Vertrauen in die Gerechtigkeit als Solches, außerhalb unseren subjektiven Empfindens, was gerecht und ungerecht ist, jenseits der eigenen subjektive Wahrnehmung von gerecht und ungerecht. Anerkennen kosmischer Gesetzmäßigkeiten, die außerhalb unseres eigenen Ermessens liegen. Dem Schicksal selbst wohnen Gesetze inne, die dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht, Maß für Maß. Es bedeutet auch nicht auf die Durchsetzung der Gerechtigkeit zu verzichten.
Vergebung, die nicht die Ungerechtigkeit bekämpft, ist kein Zeichen von Mut und Kraft, sondern ein Beweis von Schwäche und Scheintoleranz.
Vergeben heißt nicht den anderen zu entschuldigen. Die Überzeugung, der Schuldige sei nicht verantwortlich, ist leichter zu ertragen, als zu wissen, dass er im vollem Bewusstsein und aller Freiheit Böses zugefügt hat. Das müssen wir uns dann nämlich auch eingestehen, und das möchten wir nicht so gerne. Ja, manchmal ist der freie Wille nicht gewollt.
Diese eben genannte Überzeugung bringt zwar Erleichterung, missachtet aber und unterschätzt die Kraft und die Würde des Täters. Sie mindert ihn in seiner Verantwortung für sich und sein Leben einzustehen und auch selbst Kräfte zu mobilisieren, die wie bei uns selbst, eine zwar schmerzliche, aber letztendlich heilvolle Entwicklung in Gang bringt, die schließlich zu einer höheren Form des Menschseins führen wird.
Hanswerner Herber, der viel Hilfe bei Jean Monbourquette, einem jungianischen Tiefenpsychologen aus Kanada gefunden hat.