Wandeln statt Ändern

Der November wurde schon immer assoziiert mit Begriffen wie „Stirb und Werde!“, Loslassen, Wandlung. So gaben der Philosoph Karl Jaspers, der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, der Romanist Werner Krauss und der Kultursoziologe Alfred Weber ihrer im November 1945 neugegründeten Zeitschrift den Namen Die Wandlung. Sie sollte zur geistigen Erneuerung der Deutschen in den Westzonen beitragen. Man wolle es wieder wagen, verantwortlich zu sein, sich denkend in dieser ungeheuren Not zurechtzufinden. Erinnerung werde dazu nicht genügen. Der Schwerpunkt wolle man nicht auf die Geschichte, sondern auf das Gegenwärtige und die Zukunft legen. Nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Ideologie betonte Jaspers: „Wir machen kein Programm.“

Der mit der Symbolik des Pluto-Archetypus Vertraute lächelt still in sich hinein und der mit gesundem Menschenverstand Gesegnete, fragt sich wie ein Neuanfang gelingen soll, wenn das Vergangene (in einigen wesentlichen Facetten) ungeklärt bleibt. Andererseits wollen wir uns nicht weltverbesserisch missionierend zu weit aus dem Fenster lehnen, solange es uns in unserem eigenen Lebenslauf nur schwer gelingt, einen Wandel in der Tiefe des Herzen zu vollziehen.

Das Gewahrsein nach innen zu richten, in der Achtsamkeit zu bleiben gelingt ohne bewusstes Üben nicht. Immer wieder lassen wir uns von alten Gewohnheiten einfangen. Eingefahrene Verhaltensmuster beherrschen uns, wir idealisieren die Freiheit, aber unseren Gewohnheiten sind wir sklavisch ergeben. So wie kürzlich jemand bei einer Systemaufstellung sagte: „Lieber das Schreckliche wiederholen als vor dem Unbekannten Zittern.“ Hägar der Schreckliche hält dem entgegen als er seinem Bücher lesenden Sohn den Satz um die Ohren haut: “Das Unbekannte ist die Mutter aller Abenteuer.“

Wie immer liegt die Wahrheit im dialektischen Durchschreiten der Gegebenheiten. Deswegen mag uns die folgende „Autobiographie in fünf Kapiteln“  ein Vademekum sein.

1.
Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren…Ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

2.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so, als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

3.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein…aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen.
Ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort heraus.

4.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.

5.
Ich gehe eine andere Straße.

Hanswerner Herber

(„Autobiographie in fünf Kapiteln“ – Sogyal Rinpoche)

 

Scroll to Top